Die Dichterin von Aquitanien
sicher aufschrecken. Ganz davon abgesehen, dass sie nach diesem inneren Hof noch einen Außenhof zu durchqueren hätte, der ebenfalls ummauert und bewacht war. Vielleicht sollte sie mit jenem breiten, lauten Mann reden, dessen Gesicht dem ihrem glich, und darum bitten, wieder nach Hause geschickt zu werden? Ihr war immer noch nicht klar, warum er sie überhaupt an seinen Hof geholt hatte. Nach der ersten Begrüßung war sie von ihm kein einziges Mal mehr beachtet worden.
Marie entdeckte eine Kiste in der Nähe des Gemäuers und setzte sich darauf. Die frische Abendluft tat ihr gut. Ihre Sehnsucht nach Huguet wurde so stark, dass es schmerzte. Sie wollte ihr Leben nicht mit endlosen Stunden des Stickens zubringen, unterbrochen von abendlichen Gelagen und immer neuen Reisen in holpernden Wagen. Nicht einmal die von allen anderen herbeigesehnte Jagd hatte ihr Momente der Freude geschenkt. Ihr fehlte Ruhe, um wieder Geschichten spinnen zu können, was einst ihre größte Erfüllung gewesen war. Was sie sich wirklich wünschte, war ein Leben, wie Guillaume es ihr in seinen Erinnerungen beschrieben hatte, doch sah sie keinen Weg dorthin. Die Sänger und Geschichtenerzähler am Hofe waren bisher allesamt Männer gewesen. Doch wenn sie nach Huguet zurückkäme und Pierre sie mit offenen Armen empfing, worauf sie sich nicht verlassen konnte, wollte sie wirklich bis an den Rest ihrer Tage die Frau eines Dorfschmieds sein?
Jener tiefe, dunkle Graben, der Burgen umgab, hatte sich nun auch um sie herum aufgetan. Sie glaubte, darin zu versinken, ganz gleich welche Richtung sie auch einschlug. Sie seufzte auf, presste die Finger an ihre Schläfen und versuchte, jene Verzweiflung, die ihren Verstand lähmte, wieder zu verjagen. Guillaume hatte stets von der Wichtigkeit vernünftigen
Denkens gesprochen, obwohl er meistens unvernünftig gewesen war.
Wieder kam der Schmerz zurück, bohrte sich in ihre Brust wie die Waffe, mit der der Keiler erlegt worden war. Sie vermisste den einzigen Vater, den sie je gekannt hatte. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie genoss es, sie fließen zu lassen, denn endlich war sie allein.
»Demoiselle!«, vernahm sie plötzlich eine sehr junge männliche Stimme hinter ihr. Marie zuckte zusammen. Gab es in königlichen Burgen denn niemals die Möglichkeit, unbeobachtet zu bleiben?
»Demoiselle, geht es Euch nicht gut?«
Die Frage klang so besorgt und tröstlich, dass Maries Unmut schwand. Sie wandte sich um und entdeckte das schmale Gesicht eines Jünglings, umrahmt von feinem, silbrig schimmerndem Haar, das ihm bis zu seinen Schultern reichte.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich bin Jean aus der Gegend um Bordeaux. Ihr habt mich singen hören und wart sehr freundlich zu mir«, erwiderte der Junge.
Marie erinnerte sich an ihren ersten Abend in Chinon. Der Knabe war seitdem nicht mehr aufgetreten, vermutlich verschreckt durch das vernichtende Urteil über seinen Gesang.
»Ich gehe manchmal nachts auf den Hof, um mich im Harfespiel zu üben«, erklärte er. »Gewöhnlich ist niemand hier. Die Wachen schlafen irgendwann ein, obwohl sie es nicht dürfen. Doch davon weiß der König nichts. Wenn er schläft, kann er nicht alles kontrollieren. Und manchmal muss er schlafen, so wie jeder Mensch.«
Das Lächeln wurde ein wenig spöttisch. Marie nickte.
»Du hast damals nicht übel gespielt. Und dein Lied hat mir gefallen.«
Nun strahlte das Knabengesicht fast heller als der Mond.
»Ich danke Euch, Demoiselle. Schon an jenem Abend habt Ihr mir sehr geholfen. Ihr liebt die schönen Künste, nicht wahr?«
»Ja, ich liebe sie sehr«, meinte Marie wehmütig.
»Ich will eines Tages ein großer Troubadour werden. So wie Bernard de Ventadorn, den der König verjagte, weil seine Liebeslieder an die Königin zu leidenschaftlich klangen«, fuhr der Knabe mit jugendlicher Begeisterung fort.
Nun musste Marie lächeln. Sie hatte stets geahnt, dass Henri nicht frei von Eifersucht war.
»Ich wurde an den Hof geschickt, um als Ritter ausgebildet zu werden«, fuhr der zukünftige Troubadour fort. »Jeden Tag gibt es Kampfübungen. Ich weiß, dass ich mich bemühen muss, geschickt mit dem Schwert umzugehen, doch die Kunst ist mir wichtiger.«
»Das wäre sie mir auch«, erwiderte Marie.
»Ihr seid sehr klug«, rief der Junge. »Eines Tages werde ich Lieder zu Euren Ehren singen. Ihr sollt die Dame meines Herzens sein, weil Ihr nicht über mich gelacht habt wie alle anderen.«
Marie musterte den Jüngling
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