Die Dichterin von Aquitanien
mühsam hervor. »Beim nächsten Mal werde ich sicher vorsichtiger sein, um kein Unglück heraufzubeschwören.« Guy de Osteilli nickte und blickte ein wenig freundlicher drein.
»Was ist mit diesem Jungen?«, fragte er dann und wies auf die jämmerliche Gestalt, die sich ängstlich an Marie klammerte.
Marie setzte zu einer Erklärung an, doch Emma kam ihr zuvor.
»Ein Wilderer. Er trägt die wahre Schuld an der ganzen Misere. Wir sollten ihn dem König vorführen.«
Nun sah der Knabe noch erschrockener aus als nach dem Auftauchen des Keilers. Er stieß ein entsetztes Wimmern aus, zappelte, um sich aus Maries Armen zu befreien, und unternahm einen verzweifelten Versuch, im Wald zu verschwinden. Bereits nach ein paar torkelnden Schritten knickten seine Knie ein. Guy de Osteilli packte ihn und zerrte ihn wieder in die Höhe.
»Ein Wilderer also?«
»Nein, er lief nur durch den Wald«, rief Marie so entschlossen wie möglich. »Er erschrak, als er die Wildschweine sah, rannte los und machte dadurch Emmas Pferd scheu. Es war alles nur ein einziger Unglücksfall.«
»Was wollte er denn im Wald außer wildern?«, konterte Emma. Der Junge war verstummt. Zwei Damen und ein Ritter schienen ihm wohl ebenso übermächtig und bedrohlich wie das Wildschwein. Er zitterte, und ein Rinnsal von Tränen bahnte sich einen Weg über seine verschmutzten Wangen.
»Ich wollte nicht wildern. Wirklich nicht«, sagte er schließlich leise. »Bitte, edler Herr, lasst mich gehen.«
Guy de Osteilli sah plötzlich müde und traurig aus, als er den Jungen aus seinem Griff entließ.
»Na gut, verschwinde! Mach schnell, sonst überlege ich es mir anders!«
Marie zweifelte, ob der verletzte Knabe laufen konnte.
»So wird er nicht gut vorankommen«, warf sie ein.
Guy de Osteilli zuckte mit den Schultern. »Das soll seine Sorge sein, nicht unsere. Er hätte nicht in den Wald des Königs laufen dürfen. Aber nun wollen wir uns alle einigen: Es gab keinen Jungen. Das Wildschwein machte das Pferd der Demoiselle Emma scheu und warf sie ab. Die Demoiselle Marie stieg ebenfalls von ihrer Stute, weil sie ein fürsorgliches Herz hat. Dann liefen die Pferde weg. Und ebendiese Flüchtigen sollten wir jetzt suchen, um den Rest der Jagdgesellschaft einzuholen. Alle werden wissen wollen, dass ich einen großen Keiler erlegt habe, der auf unseren Gaumen köstlich munden wird.«
Entschlossen wandte er sich dem Wald zu. Emma blickte ein wenig verärgert drein, doch war das Lächeln auf ihrem Gesicht wie festgewachsen.
»Chevalier de Osteilli, Ihr solltet wissen, dass ich niemals
vergessen werde, wer mein Lebensretter war. Ihr könnt mit meiner Gunst und Dankbarkeit rechnen«, sagte sie laut und deutlich.
Marie wurde unwohl. Ein solcher Fehler wäre Aliénor niemals unterlaufen, grübelte sie. Eine Dame, die verehrt und bewundert werden wollte wie ein höheres Wesen, durfte nicht auf solch dringliche, zutiefst menschliche Weise um Aufmerksamkeit flehen.
Guy de Osteilli drehte nur kurz den Kopf in Emmas Richtung. Er sah immer noch bedrückt aus, doch lag nun auch ungeduldiger Ärger in seinem Blick, als schwirre ein lästiges Insekt um ihn herum, das er zu verscheuchen suchte.
»Meine verehrte Demoiselle Emma, der König hat beschlossen, mit seinen Rittern nach Wales aufzubrechen. Sein Vasall Walter de Clifford meldet wieder einmal einen Aufruhr störrischer Dickschädel. Ich werde also leider nicht die Muße haben, im Licht Eurer Gunst zu strahlen.«
Für einen Moment rutschte die höfische Maske von Emmas Gesicht. Ihre Augen glänzten tränenfeucht, während sie den Tierkadavern rasch einen heftigen Tritt verpasste und dann angewidert auf die Spitzen ihrer Schuhe blickte, die blutgetränkt waren.
Der Schreck saß Marie noch in den Knochen, als sie nach dem Löschen aller Kerzen erleichtert die Augen schloss. Gewöhnlich genoss sie diesen Moment, denn das Dunkel schützte vor fremden Blicken, schenkte ihr die Illusion des Alleinseins. Nach Guillaumes Tod hatte sie in der Ruine bei Huguet unter Einsamkeit gelitten und geglaubt, die Nähe anderer Menschen könnte genügen, damit sie sich weniger verlassen fühlte. Nun wusste sie, wie verkehrt diese Annahme gewesen war. Obwohl sie jetzt ständig Gesellschaft hatte, änderte dies nichts an dem Gefühl der Verlorenheit. Es schien
manchmal anstrengend, ständig beobachtet zu werden und mit der Angst zu leben, in dieser fremden Welt einen fatalen Fehler zu begehen. So wie ein Weg über gefrorenes
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