Die Dichterin von Aquitanien
eindringlich. Das ebenmäßige Knabengesicht unter den hellblonden Locken war noch unfertig und weich, doch etwas an ihm vermochte bereits ein wenig zu betören, und sei es nur durch die Leidenschaftlichkeit und Begeisterung, die aus seinen blauen Augen strahlte. In ein paar Jahren würde er sich vermutlich in einen jungen Mann verwandeln, an dem die Blicke höfischer Damen hingen, selbst wenn er nur mittelprächtig sang. Trotzdem waren seine Worte wie eine Umarmung, die sie aus den Tiefen der Verzweiflung riss. Wenigstens einem Menschen hier bei Hofe schien sie wichtig zu sein.
»Ich könnte dir bei den Liedtexten helfen, wenn du
willst«, schlug sie vor. Die Augen des Jungen weiteten sich ungläubig.
»Das ist sehr großzügig von Euch. Leider müssen wir bald nach Wales, um gegen Aufständische zu kämpfen. Doch ich werde Euch in meinem Herzen tragen. Denkt bitte manchmal an Jean aus Bordeaux und nehmt ein Geschenk von ihm an.«
Er griff in eine Tasche, die an seinem Gürtel hing, und zog einen kleinen Gegenstand heraus.
»Diesen Stein fand ich während der Reise nach Cherbourg. Er sieht ganz gewöhnlich aus, doch im Mondlicht wird er wunderschön. Seht!«
Der Stein war rissig und uneben. Marie sah, wie der Mond seine zahllosen, winzigen Flächen erhellte und silbern schimmern ließ. Für einen Augenblick schien er tatsächlich reizvoller als alle Juwelen, die Aliénor bei den abendlichen Gelagen trug.
»Der Stein ist wie Ihr, Demoiselle. Auf den ersten Blick wirkt er unscheinbar, doch wer ihn länger betrachtet, erkennt seine wahre Schönheit.«
Marie unterdrückte ein Kichern, während sie das Geschenk annahm. Dieser Knabe besaß tatsächlich das Talent, ein gefragter Troubadour zu werden, da er geschickt und wortgewandt zu schmeicheln verstand. Sie spürte Glut auf ihren Wangen und stand auf, denn es war ihr unangenehm, dass ein Jüngling sie verlegen machte.
»Ich weiß Eure Treue zu schätzen, Jean aus Bordeaux«, meinte sie so gelassen wie möglich, denn dies war Aliénors Art, mit Komplimenten umzugehen. »Doch nun muss ich mich zurückziehen. Es wird bald hell werden, und ich sollte im Schlafsaal der königlichen Damen liegen, wenn sie erwachen.«
Der Junge nickte etwas betrübt, doch tauschte er widerspruchslos
Worte des Abschieds mit ihr aus. Marie erhob sich und machte sich auf den Rückweg. Wenn dieser Knabe zum Mann geworden war und merkte, wie sehr er Frauen gefiel, würde seine Aufmerksamkeit vermutlich echten Schönheiten wie der Königin oder Emma gelten. Warum sollte ihn noch ein schlichter grauer Stein begeistern, sobald Juwelen darauf warteten, von ihm aufgehoben zu werden? Doch es tat gut zu wissen, dass sie einem Menschen hier am Hof etwas bedeutete. Sie presste den Stein gegen ihre Handfläche, bis er sich warm anzufühlen begann. Tatsächlich schien er ihr Trost und Ruhe zu schenken, rückte ihre Lage wieder in ein weniger düsteres Licht. Vielleicht konnte sie einen Weg finden, wieder Lateinunterricht zu erhalten, was ihre Existenz am Hofe weniger leer machen würde. Es gab hier einige Herren im Priestergewand wie jenen Freund Torqueri de Bouillons, die des Lateinischen mächtig sein mussten. Vielleicht könnte sie ihn überreden oder gar den königlichen Onkel darum bitten, ihr diese Gunst zu gewähren. Sie beschloss, einen günstigen Moment abzuwarten.
Doch dieser Moment kam nicht, denn bald schon brach der König zu seinem Feldzug in Wales auf, während seine Gemahlin mit ihren Damen nach Westminster reiste.
7. Kapitel
S ie zogen an London vorbei. Marie sah die Stadtmauern, darüber hinausragende Spitzen von Kirchtürmen, prächtige Häuser, die bereits außerhalb der Ummauerung entstanden waren, und bekam eine Ahnung vom bunten, lebendigen Getümmel, wie sie es in Saint Denis erlebt hatte. Die Hofgesellschaft erreichte die große Burg von Westminster etwas weiter westlich am Ufer der Themse, die ähnlich komfortabel eingerichtet war wie Chinon. Aliénor machte einen sehr entspannten, zufriedenen Eindruck. Danach bestand Maries Leben weiterhin aus täglicher Stickerei, die sie allmählich besser beherrschte, doch löste dieser Erfolg keine echte Freude in ihr aus. In einer großen Halle empfing die Königin Gesandte und Bittsteller, doch worüber dabei geredet wurde, erfuhr Marie nicht. Gelegentlich drang Getuschel an ihr Ohr, dass Thomas Becket dem König zahlreiche Schwierigkeiten gemacht hatte, da er ständig dessen neue Gesetze ablehnte, sobald sie die Kirche betrafen.
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