Die Dichterin von Aquitanien
sie meinen Vater begrüßte. Er konnte wunderschöne Melodien auf der Harfe für sie zaubern. Manchmal nahm er mich auf den Schoß und sang Lieder über edle Damen und tapfere Ritter, die nur mir galten. Aber immer wieder ging er fort. Dann schloss meine Mutter sich tagelang in ihrer Kammer ein und wollte niemanden sehen. Auch mich nicht, denn ich glaube, ich erinnerte sie an ihn, und dadurch wurde sie noch trauriger. Irgendwann begann sie zu kränkeln, und ihre Schönheit schwand. Da kam mein Vater immer seltener, schickte am Ende nur noch Boten, um Geld zu übergeben. Auch zu der Beerdigung meiner Mutter erschien er nicht. Der Dorfpfarrer wollte sie nicht auf seinem Friedhof haben, weil sie in Sünde gelebt hatte. Sie wurde hinter der Burg verscharrt.«
Marie rückte ein Stück näher an ihre Tante heran.
»Wir haben mehr gemein, als ich dachte«, rief sie, ohne weiter zu überlegen. »Auch meine Mutter konnte nicht mit dem Mann leben, den sie liebte. Sie starb, als ich noch klein war, ich kann mich nicht an sie erinnern. Aber mein Ziehvater war Gaukler und Sänger. Nach seinem Tod machte der Dorfpfarrer ebenfalls Ärger und wollte ihn nicht auf dem Friedhof beerdigen. Ein guter Freund aus dem Dorf setzte sich für uns ein. Er erinnerte den Pfarrer, dass der Gaukler eben wegen seiner sündhaften Vergangenheit Beziehungen zu einflussreichen Leuten hatte, und so fand schließlich eine Beerdigung mit priesterlichem Segen statt. Ich selbst war zu niedergeschlagen, um für Guillaume zu kämpfen, obwohl er mir wie ein Vater gewesen war. Es war alles wie ein böser Traum, der einfach nicht aufhören wollte.«
Auf einmal drängte es sie, Emma mehr von Huguet zu erzählen, von Guillaume und Pierre. Der Tante, die mehr wie eine Schwester war, ihr ganzes früheres Leben zu beschreiben, damit sie sich endlich näherkämen. Doch die Gestalt an ihrer Seite hatte sich wieder in eine hochmütige Statue verwandelt.
»Es ist schön für dich, dass du so viele Männer hattest, die zu dir hielten«, kam es nun in eisigem Tonfall. »Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen uns. Meine Mutter war armer, doch vornehmer Abkunft. Gleich nach ihrem Tod wurde ich an den Hof geholt und wuchs dort auf. Deshalb gab es natürlich keine bäuerlichen Freunde, die mich unterstützt hätten. Eine Dame braucht das nicht.«
Emma erhob sich und eilte in den Schlafraum zurück. Marie blieb fassungslos zurück. Wie dumm sie gewesen war, in dieser Verwandten eine Vertraute zu suchen! Es gab einen tiefen, unüberwindlichen Graben zwischen ihnen. Emma gehörte an diesen Ort, doch sie selbst tat es nicht, würde
am Hof immer eine Fremde sein. Das Urteil ihrer Tante war eindeutig und vernichtend gewesen.
Sie schlang ihre Arme um die Knie und senkte den Kopf. Niemals zuvor hatte sie sich derart allein gefühlt. Die Burg von Windsor war nicht ihr Zuhause, und auch alle anderen Orte, wohin die höfische Kolonne zog, würden es niemals sein. Pierres Gesicht tauchte in aller Deutlichkeit vor ihr auf. Lange hatten die neuen Eindrücke es verdrängt, doch nun spürte sie wieder seinen liebevollen Blick, die Wärme der Berührungen damals am Waldrand. Sie versank in Erinnerungen, die wie ein geheimer Gang waren, der sie von diesem Ort wegführen konnte. Sie wollte fort. Nach Hause. Nach Huguet.
Schließlich beschloss Marie, sich die Burg genauer anzusehen. Sie musste herausfinden, welche Eingänge nachts bewacht waren, und eine Fluchtmöglichkeit finden. Dann konnte sie vielleicht schon bald heimlich verschwinden. Ihre höfische Kleidung würde sie im nächsten größeren Ort verkaufen, um so Geld für die Heimreise zu bekommen. Sie brauchte nur den groben Kittel von einst. Und Cleopatra. Auf die eine oder andere Art würde sie sich nach Huguet durchschlagen und Pierre erklären, dass sie kein Leben am Königshof wollte.
Mit der Hand stützte sie sich an der Mauer ab, während sie eine Wendeltreppe hinabstieg. Dann durchquerte sie verlassene Gänge. Die Tür zum inneren Hof schwang ohne Widerstand auf. Sie hörte ein paar Hunde knurren, doch schienen sie ihre Gestalt als vertraut und harmlos zu empfinden, denn die am Boden herumliegenden Körper sprangen nicht auf. Mondlicht ließ silbrige Umrisse und Schatten auftauchen. Das Ausgangstor war verriegelt. Zwei Männer im Kettenhemd lehnten daran, ebenso schläfrig wie die Hunde. Trotzdem wäre es nicht einfach, an ihnen vorbeizukommen,
denn sobald sie die Riegel am Tor zu entfernen versuchte, würden sie
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