Die Dichterin von Aquitanien
zwischen den tiefen Falten hing. Eine zackige Narbe entstellte seine linke Wange. Er war von stämmigem, aber kleinem Wuchs, was sie ein wenig an Guillaume erinnerte, doch fehlte ihm der spöttische, kluge Blick, den sie an ihrem Ziehvater geliebt hatte. So, wie er da stand, wirkte er ein wenig krumm, als zwinge ein unsichtbares Gewicht auf der rechten Schulter ihn, sich zur Seite zu lehnen. Der linke Arm baumelte leicht. Marie dachte an einen der Bauern aus Huguet, der in seiner Jugend unter die Räder eines Karrens geraten war und sich seitdem nicht mehr richtig bewegen konnte. Auch Cadell ap Gruffydd machte den Eindruck, nicht mehr ganz Herr über seinen Körper zu sein. Gleichzeitig spürte sie, wie er sie eingehend musterte, und fragte sich, ob er ebenso entsetzt von ihr war wie sie von ihm. Kurz wanderte der Blick des Walisers sehnsüchtig in Emmas Richtung.
»Ich bin keine Normannin«, erwiderte Marie, um nicht einfach nur schweigend dazusitzen. »Ich wurde in der Nähe von Paris geboren.«
»Warum soll die Nichte eines normannischen Königs keine Normannin sein? Du bist wohl ein zänkisches Weib, das gern widerspricht«, meinte er spitz, und Marie spürte seinen nassen Speichel auf ihren Wangen.
»Ich widerspreche nur, wenn jemand etwas Falsches sagt«, beharrte sie. Cadell verzog das Gesicht.
»Also tanzt du nun oder nicht?«, fragte er unwirsch. Marie stellte sich vor, wie der kleine, verkrümmte Waliser wohl beim Tanz aussehen mochte.
»Nein, ich tanze nicht«, erwiderte sie und bemerkte erleichtert, dass Cadell zurücktrat.
»Ich hoffe, ein Mann kann irgendwelchen Spaß mit dir haben«, murmelte er, bevor er sich wieder an der Seite des Prinzen Rhys niederließ.
»Marie, es ist nicht klug, deinen zukünftigen Mann gleich gegen dich aufzubringen«, ermahnte Torqueri sanft.
Marie unterdrückte den Wunsch, die freundliche Frau wütend anzuschreien.
Es war alles nur ein böser Traum. Gleich würde sie erwachen.
Benommen betrachtete sie die Gestalten der Bediensteten, die Bretter und Schüsseln abräumten. Hawisa war wieder aufgetaucht, hielt jedoch Abstand von dem Ritter, der sie belästigt hatte. Marie spürte den Blick der Dienerin auf sich ruhen und hob kurz ihre Hand zu dem verabredeten Zeichen. Sobald die Hofgesellschaft sich aufgelöst hatte, würden sie sich heimlich treffen. Eine innere Stimme sagte Marie, dass niemand ihr helfen würde - außer vielleicht dieser Dienerin.
8. Kapitel
M arie wartete, bis es völlig still im Schlafsaal geworden war. Torqueri schnarchte leise, Mathilde stieß ein paar unverständliche Worte aus, doch sonst drangen nur ruhige, tiefe Atemzüge an ihr Ohr. So leise wie möglich stand sie auf und griff nach dem Bündel, das bereits neben ihrem Bett lag. Rasch wickelte sie die Decke um ihre Schultern. Sich hier anzukleiden, wäre zu gefährlich gewesen, sie musste unterwegs eine unauffällige Stelle suchen. Glücklicherweise waren die Nächte nicht mehr eisig kalt. Sie warf einen letzten Blick auf Cleopatra, die friedlich in ihrem Käfig schlief.
»Ich würde dich gern freilassen, doch in diesem Land könntest du allein nicht überleben. Torqueri wird sich um dich kümmern. Ich wünsche dir ein langes Leben und dass du irgendwann wieder aus dem Käfig gelassen wirst«, murmelte sie leise und wischte sich die Augen trocken. Dann schlich sie rasch aus dem Raum.
Auf den Stufen der Wendeltreppe zog Marie den alten Kittel über ihre Chemise und band ihn mit dem Gürtel fest. Viele Monate waren vergangen, seit sie dieses einfache Gewand zum letzten Mal getragen hatte. Der grobe Stoff kratzte auf ihrer Haut, aber er gab ihr das Gefühl, geschützt und unauffällig zu sein. Die feinen Chemises und Bliauts, ihren Schleier mit dem Riss und all jenen anderen Zierrat, den sie während der Zeit bei Hofe angesammelt hatte, nahm sie nur
mit, um ihn bei nächster Gelegenheit verkaufen zu können. Ihr Leben als höfische Dame war vorbei.
Dennoch schlüpfte sie in ihre Schnabelschuhe und war entschlossen, sie so lange wie möglich zu behalten, zumindest bis sie robusteres Schuhwerk erwerben konnte. Dann klemmte Marie sich ihr Bündel unter den Arm und schlich weiter durch die nächtliche Burg. Hawisa hatte ihr den Weg beschrieben, doch sie fürchtete, sich im Dunkeln zu verirren. Sollte ihr ein Wachmann über den Weg laufen, so konnte sie in ihrer schlichten Aufmachung vorgeben, eine Bedienstete zu sein, die des Nachts erledigte, was sie tagsüber versäumt hatte, um keinen
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