Die Dichterin von Aquitanien
älteren Bruder, um ihn abfällig zu mustern. Marie sah, wie Cadell in sich zusammensackte und in stummem Zorn die Tiefen seines Bierkrugs betrachtete. Der Abend verlief auch für ihren Verlobten alles andere als erfreulich. Noch einmal betrachtete sie Cadell verstohlen. In ihrer Kindheit hatte sie sich manchmal Geschwister gewünscht, doch nun fragte sie sich, wie es wohl war, im Schatten eines Bruders zu leben, der einen in jeder Hinsicht überragte. Ein Funken von Mitgefühl erwachte in ihr. Vielleicht konnten ihr zukünftiger Gemahl und sie so etwas wie Freunde werden, vereint durch den Umstand, dass sie beide unscheinbare, unwichtige Menschen waren.
Cadell wandte sich ihr zu. Sie überwand den Abscheu, den sein Anblick ihr einflößte, und versuchte, ihn freundlich anzusehen.
»Ist das, was Ihr mitgebracht habt, Eure gesamte Mitgift?«, fragte er nur.
Darüber hatte Marie bisher noch gar nicht nachgedacht. Die Kisten, die mit ihr auf die Reise geschickt wurden, waren ihr völlig unwichtig erschienen.
»Ja, ich denke, dies ist meine gesamte Mitgift«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Cadells starrte in seinen Krug und murmelte etwas auf Walisisch, das sich wie ein Fluch anhörte.
Da betrat ein junger Mann mit einer Harfe den Saal, ließ
sich auf einem Schemel nieder und stimmte ein Lied an. Anders als dem jungen Jean damals in Chinon gelang es ihm, die Anwesenden gleich mit den ersten Tönen zum Schweigen zu bringen. Seine Stimme floss weich dahin und zog Marie aus den Tiefen der Trübsal in eine Welt voller Zauber und Schönheit. Zwar verstand sie kein Wort von dem Lied, doch hatte seine Melodie eine eigene Sprache, die von Leidenschaft und Tapferkeit erzählte. Marie war wie gebannt. Der kleine, breitschultrige Sänger mit seinen braunen Locken stellte alle Künstler, die sie an Henris Hof erlebt hatte, in den Schatten. So mussten Gedichte sich anhören, wenn sie vorgetragen wurden: wie ein Fluss, der zunächst nur sanft plätscherte, um sich allmählich in einen mitreißenden Strom zu verwandeln.
»Was ist das für ein Lied?«, wandte sie sich erstmals freiwillig an Cadell. Sein Blick streifte sie nur kurz.
»Ein altes walisisches Gedicht. Y Gododdin. Es geht um ein paar tapfere Helden, wie mein Bruder Rhys es gerne wäre«, erwiderte er. »Den Sänger habe übrigens ich entdeckt. Sein Name ist Owein. Er ist der Sohn von Bauern, doch da er als Kind einem normannischen Herrn diente, beherrscht er Eure Sprache. Er führte Euch hierher.«
Marie musterte den Sänger genauer und erkannte das hübsche Koboldgesicht wieder. Zudem fiel ihr auf, wie noch jemand gebannt auf ihn starrte. Guy de Osteilli schien vergessen zu haben, dass er sich in einer unwirtlichen Wildnis befand. Seine Augen leuchteten, und seine Wangen glichen glatten roten Äpfeln, während er an Oweins Lippen hing.
10. Kapitel
D ie Hochzeit fand in einer kleinen Kirche nahe der Burg statt. Cadell überreichte Marie einen Ring aus schlichter Bronze vor dem Eingangstor, und sie steckte ihn schweigend an den Finger. Beide murmelten das Eheversprechen so leise, dass es für die Umstehenden kaum zu hören war, doch störte sich niemand daran. Anschließend traten sie Seite an Seite ein und legten sich vor dem Altar zu Boden, wie es auch in Maries französischer Heimat Sitte war. Sie lauschte der eintönigen Stimme des Priesters und versuchte, sich auf die wenigen lateinischen Worte zu konzentrieren, deren Bedeutung sie begriff. Weder sah sie Cadell an noch fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen. Auf diese Weise überstanden sie die Zeremonie.
Danach begann eine ausgelassene Feier. Wieder löste der hübsche Kobold durch seinen Gesang Stürme der Begeisterung aus, doch diesmal reichte auch der Zauber der Melodien nicht, um Marie abzulenken. Als Ehepaar aßen Cadell und sie nun gemeinsam von einem Fladen, den der Bräutigam reichlich mit Fleischstücken belegte. Das Bier, mit dem sie das Essen hinunterspülte, hätte ebenso gut Wasser sein können. Erst nach und nach wurde ihr in aller Deutlichkeit klar, dass sie fortan die Frau dieses verbitterten, faltigen Mannes sein würde, sein Bett teilen und ihm Kinder gebären sollte, bis der Tod einen von ihnen aus dieser Verpflichtung erlöste. Sie erinnerte sie jetzt an den letzten Abend bei der Ruine
von Huguet, an Pierres sehnsüchtige Berührungen, die einen unbekannten, erschreckend dringlichen Hunger in ihr geweckt hatten. Ebendies sollte sie nun mit einem Fremden tun, dessen bloßer Anblick sie
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