Die Diebe von Freistaat
trugen, das ganz offensichtlich eine Leiche war. Aber sie behinderten sie nicht, und es war noch viel zu früh, daß lärmende Heimkehrer sich vom Versprechen auf den Weg machten.
Gewaltige Steinblöcke in einem Morastmeer zeigten an, wo der neue Tempel entstehen würde. Ein durch das aufgefangene Regenwasser durchhängender Baldachin schützte schwelende Kohlebecken und Fackeln. Ansonsten war hier alles still und verlassen.
Es ist die Nacht des Zehntodes. Cappen Varra versicherte mir, daß die Priester beschäftigt sein würden. Regen verhindert die Weihung nicht. Götter spüren keinen Regen, dachte fllyra, aber sicher wußte sie es nicht. Sie saß mit dem Rücken zu Dubro und zitterte mehr aus Zweifel und Furcht als von dem kalten Wasser, das ihr den Rücken hinabtropfte.
Während sie so saß, wurde aus dem strömenden Regen ein dunstiges Nieseln, das aussah, als würde es bald nachlassen. Sie verließ den zweifelhaften Schutz eines Steinhaufens und wagte sich näher an den Baldachin heran. Ein Podest war am Rand einer Grube errichtet worden, damit die Zeremonie nicht im Schlamm stattfinden mußte. Seile hingen an einer Seite in die Grube; gewiß sollten sie dazu dienen, das Opfer hinunterzulassen. Rundhölzer gegenüber hielten einen bereits leicht gekippten Steinblock, der sich durch einen leichten Stoß in Bewegung setzen und alles in der Grube zermalmen würde.
Zumindest waren sie also nicht zu spät gekommen. Die Opferung hatte noch nicht stattgefunden. Ehe Illyra Dubro wieder erreicht hatte, sah sie in der dunstverhangenen Ferne sechs Fackeln näherkommen.
»Das sind sie!« flüsterte sie Dubro zu.
»Ich sehe sie. Uns bleiben nur noch wenige Augenblicke.«
Sie wickelte die zwei Seile aus der Schmiede ab, die sie sich um die Taille geschlungen hatte. Sie hatte ihren eigenen Plan für den Austausch ausgearbeitet, da weder der Traumgeist noch ihre Meditationen ihr ausreichenden Einblick und Eingebung geboten hatten.
» Sie werden höchstwahrscheinlich demselben Pfad folgen wie wir, da ja auch sie jemanden tragen«, erklärte sie, während sie die Seile über den Schlamm spannte und sie leicht damit verdeckte. »Wir werden dafür sorgen, daß sie hier darüber fallen.«
»Und ich tausche unsere Leiche gegen das Mädchen aus?«
»Ja.«
Sie schwiegen, während sie beide in einem Schlammloch warteten und hofften, der Zug würde zwischen ihnen hindurchkommen.
Das Glück, das ihr Traum versprochen hatte, erfüllte sich. Molin Fackelhalter führte die kleine Prozession mit einer großen Fackel aus Bronze und Holz aus dem Sabelliatempel in Ranke höchstpersönlich an. Ihm dichtauf folgten drei Akolythen mit duftendem Räucherwerk und Fackeln. Die letzten beiden Fackeln waren an einer Bahre befestigt, welche die hinteren zwei Priester zwischen sich auf den Schultern trugen.
Molin Fackelhalter und die anderen drei stapften über die Seile, ohne sie zu bemerken. Als der erste Bahrenträger zwischen den Seilen war, spannte Illyra sie straff.
Die Bahrenträger hörten das leichte Platschen, als die Seile aus dem Schlamm schnellten, stolperten jedoch darüber, ehe sie etwas dagegen tun konnten. Marilla und die F ackeln fielen in Dubros Richtung, die Priester in Illyras. In dem Durcheinander im Dunkeln gelang es Illyra ungehindert, Schutz hinter einem Haufen Steinblöcken zu finden, doch ohne daß sie hätte sehen können, ob Dubro der Austausch geglückt war.
»Was ist denn los?« erkundigte sich Molin ungehalten und eilte mit seiner schweren Fackel den Weg, den sie gekommen waren, zurück.
»Die verdammten Arbeiter haben ihre Seile herumliegenlassen!« antwortete ein schlammgebadeter Priester und kletterte aus einem knietiefen Schlammloch. »Und das Mädchen?« fragte Molin.
»Liegt offenbar dort drüben.«
Molin F ackelhalter hob mit einer Hand den Gewandsaum und führte die Akoluthen und Priester zu der Schlammgrube, auf die der eine Bahrenträger gedeutet hatte. Illyra hörte Geräusche und betete, daß es Dubro sei, der sich in der Dunkelheit in Sicherheit brachte.
»Helft mit!«
»Verdammter Ilsiger Schlamm. Sie wiegt jetzt zehnmal soviel.«
»Ein bißchen mehr Schlamm, ein wenig früher, tut dem Tempel keinen Abbruch, aber es ist besser, nicht darüber zu sprechen.« F ackelhalters gleichmütige Stimme beruhigte die anderen.
Die Fackeln von der Bahre wurden neu angezündet. Von ihrem Versteck konnte Illyra eine dick mit Schlamm bedeckte, offenbar in Tücher gewickelte Gestalt auf der Bahre sehen.
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