Die Dienstagsfrauen zwischen Kraut und Rüben
bauen, einen Sohn zeugen, einen Baum
pflanzen? Auch wenn die Welt morgen untergeht. In dem Sinn?«
»Zählen Topfpflanzen
auch als Baum?«, fragte Estelle. »Als ich in das Leben meines Mannes kam, war
der Sohn schon gezeugt und das Haus fertig. Da muss man Abstriche machen.«
»Hier ist gestern schon
die Welt untergegangen«, meldete Kiki sich zu Wort. »Wenn das mit dem Regen so
weitergeht, bevor das Dach in Ordnung ist, fange ich mit dem Bau einer Arche
an.«
Judith kicherte: »Ich
habe mir früher vorgestellt, dass ich mal ein Gesetz breche. Ich stehle die
Kronjuwelen, flüchte und werde Staatsbürger eines anderen Landes.«
»Schweden vermutlich«,
kommentierte Estelle. »Da sind die Gardinen am schönsten.«
Caroline konnte solch
kriminellen Fantasien nichts abgewinnen: »Ich würde gerne mal ein Leben retten,
wie Eva das fast täglich tut. In meinem Beruf komme ich oft, wenn alles schon
zu spät ist.«
Eva winkte ab. Der
Alltag in der Klinik fiel weit prosaischer aus: »Leben retten kann man nur,
wenn man akzeptiert, dass man auch Leben verliert. Das hält sich die Waage.«
»Fallschirm springen«,
schlug Kiki vor. »Davon träume ich schon lange.«
Und dann stürzten die
Einfälle vom Himmel wie der Regen am gestrigen Tag. Das Innere einer Pyramide
erforschen, mit dem Rucksack quer durch Amerika ziehen, das Amazonasgebiet
erkunden, zur Titanic tauchen, die chinesische Mauer ablaufen, mit der
Transsibirischen Eisenbahn fahren, James Joyce lesen, den eigenen Namen ändern,
endlich die alte Freundin anrufen, eine Antwort finden auf die wichtigen
tagespolitischen Fragen: Ist was dran an den Verschwörungstheorien vom
11. September? Warum ist der Papst zurückgetreten? Wird der 1. FC Köln noch mal Meister?
Estelle hatte die ganze
Zeit geschwiegen. Jetzt fiel ihr doch noch etwas ein. »Ich möchte einmal ein
Lama besitzen«, sagte sie.
»Was für ein Unsinn.
Niemand will ein Lama«, meinte Judith.
»Es sind meine Träume,
nicht deine«, beschwerte sich Estelle und erzählte von einem Verein, der
Therapie-Lamas züchtete. Alleine das Wort »Therapie-Lama« führte zu
hysterischen Heiterkeitsausbrüchen.
»Es ist mir ernst mit
der Frage«, mahnte Eva.
Estelle blieb dabei:
»Mir auch. Lamas sind ehrliche Gesellen. Sie kommunizieren mit Körpersprache.
Wenn ihnen was nicht passt, spucken sie es direkt aus. Jeder kann sehen, wenn
sie sauer sind. Und man kann eine Decke draus machen.«
»Und was machst du mit
einem Therapie-Lama?«, fragte Caroline interessiert.
»Nichts«, erklärte
Estelle. »Die sind einfach da. Von Lamas kann man Stressbewältigung lernen.
Kühe gehen auch. Die umarmt man und wird augenblicklich glücklich.«
Oskar jaulte auf. Seit
er die riesenhaften Tiere auf der benachbarten Weide entdeckt hatte, traute der
Stadthund sich keinen Zentimeter mehr aus dem Garten. Schon die pure Erwähnung
einer Kuh ließ ihn ängstlich wimmern.
Eva, die die Diskussion
angeschoben hatte, hielt sich bedeckt. Über Pyramiden oder Abenteuer mit Lamas
oder Kühen zu fantasieren, lag ihr fern. Bei ihrer inneren Inventur war ihr
aufgefallen, dass es in ihrem Leben eine große Leerstelle gab.
Merkwürdigerweise hatte sie nichts mit der Frage nach ihrem Erzeuger zu tun.
Eineinhalb Jahre war es jetzt her, dass Eva rausgefunden hatte, wer ihr
biologischer Vater war. Die Geschichte war kompliziert und verknotet. Auch wenn
sie dem Mann, der noch immer mit ihrer Mutter befreundet war, regelmäßig
begegnete, hatte sie darauf verzichtet, die Wahrheit auszusprechen. Sie wusste,
dass er wusste, dass sie wusste, dass er wusste. Das genügte ihr. Eva hatte
Frieden geschlossen mit ihrer Vergangenheit und ihrer Mutter Regine. Zumindest
theoretisch, wenn sie nicht in der Nähe war. Es gab eine andere Leerstelle.
Hatte sie etwas
verpasst, weil es in ihrem Leben eigentlich nur einen einzigen Mann gegeben
hatte? Auf der Pilgertour hatte sie eine flüchtige Männerbekanntschaft gehabt.
Vielleicht hätte sie sich in ein Abenteuer stürzen sollen, anstatt brav zu
Ehemann Frido zurückzukehren. Wenn sie ehrlich war, dann wünschte sie sich,
noch einmal verliebt zu sein. Noch einmal Schmetterlinge im Bauch, noch einmal
so nervös zu sein vor einem Treffen, dass man den ganzen Tag nichts
runterbekam, noch einmal geheime Blicke auszutauschen und einen ersten
ängstlichen Kuss, noch einmal an einer Schwelle stehen, an der das Leben in
zwei Richtungen gehen konnte. Noch einmal sagen »Ich liebe dich« und es
wirklich zu meinen.
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