Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
Gesellschaft eher beiträgt, als sie aufzuheben. Politiker und andere Theoretiker der Welt sprechen gerne von den großen ungenutzten Potenzialen des Netzes, statt solche Probleme mit Nachdruck anzugehen.
Die unmittelbare Fehlbarkeitsprüfung
Auf der anderen Seite des Bevölkerungsspektrums finden ebenfalls nachhaltige Veränderungen statt, wenn auch mit ungleich positiverer Wirkung. Sie werden für die Zukunft ähnlich wichtig sein.
Als die Freie Universität Berlin anfing, ihre Räume mit drahtlosen Internetzugängen auszustatten, war ein neues Phänomen zu beobachten, am Anfang vereinzelt, dann generell. Weiterhin spricht vorne ein Dozent oder Referent. Aber im Hörsaal haben alle Studenten ihren Laptop offen, der inzwischen fast zurGrundausstattung gehört. Was der Dozent sagt, kann so jederzeit gegengeprüft werden. Stimmen die Daten? Ist das Zitat echt, das gerade an die Wand geworfen wurde? Ist der Dozent auf dem aktuellen Stand der Forschung? Oder gibt er nur die Debatte von vor zehn Jahren wieder? Redet er womöglich Unfug? Früher hätte man dafür in Bibliotheken gehen, sich Bücher bestellen und Fachzeitschriften durchblättern müssen. Heute ist eine zumindest oberflächliche Gegenprüfung binnen weniger Sekunden möglich.
Fußnoten sind in der Wissenschaft seit Jahrhunderten das offizielle System für Quellenangaben und andere Referenzen 1 . Damit soll die Nachprüfbarkeit und auch die Qualität und Vollständigkeit des Fachwissens des Autors belegt werden. Auf Papier gibt es keine andere Möglichkeit, einen direkten Verweis zu platzieren. Man kann keine Links setzen. In der elektronischen Welt ist das anders. Was früher kaum praktisch nachvollzogen werden konnte, erschließt sich heute mit wenigen Klicks. Und das kann durchaus die Grundfesten unseres Bildungssystems erschüttern.
Stellen wir uns vor, wir würden an einer kleinen Hochschule studieren. Die Dozenten das Fachs sind womöglich nicht die besten, die Kommilitonen nicht die Engagiertesten, die Bibliothek ist eher dürftig ausgestattet. Das ist ja häufiger so. Damit musste man sich früher abfinden. Aber wie wäre es, wenn man gar nicht mehr auf die Bibliothek und die Dozenten vor Ort angewiesen wäre? Wenn einem das Niveau der Diskussionen und Vorlesungen egal sein kann?
Die unmittelbare Verfügbarkeit von Wissen
Es gibt bereits heute eine Vielzahl von Fächern, zu denen im Internet eine unendlich wirkende Materialfülle vorhanden ist, teilweise komplette Vorlesungen oder Mitschriften, Präsentationen von Professoren, Fachartikel und Vorträge. Diese sind oft für dieAllgemeinheit frei verfügbar. Apple zum Beispiel hat in seinem iTunes-Onlinestore eine Vielzahl an Podcasts veröffentlicht, also meist Audiostücke, die Universitätsvorlesungen beinhalten. Ob es sich um eine Einführung in die Astrophysik von der berühmten Universität Oxford, einen Kurs der kalifornischen Universität Berkeley zum römischen Imperium oder eine Einführung in die praktische Philosophie handelt, wie sie an der Leibniz Universität Hannover angeboten wird: All das ist online und verfügbar. Das Massachusetts Institute of Technology, das MIT, ist die wohl berühmteste Technische Hochschule der Welt. Sie stellt mit MI T-Open CourseWare 2000 für jedermann frei zugänglich Kurse ins Netz: Offene Lernressourcen, Open Educational Resources (OER), heißt das Schlagwort hierfür – der freie Zugang zu Wissen, das speziell für Lernzwecke aufbereitet ist und aus dem »Normalbetrieb« stammt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind derartige Angebote nicht von schlechterer Qualität als die entsprechenden Vorlesungen der Dozenten vor Ort.
Ist es angesichts solcher strukturellen Veränderungen nicht an der Zeit, sich von dem Gedanken zu lösen, dass die körperliche Anwesenheit in Schulen, Seminaren und Vorlesungen darüber mitentscheiden soll, ob jemand für qualifiziert befunden wird? Ist es nicht viel mehr so, dass es heutzutage in erster Linie um den Nachweis einer Fähigkeit, eines Könnens geht, die in Form von Hausarbeiten, Laborpraktika, Klausuren und Prüfungsgesprächen abgefragt werden? Wo ist der Mehrwert der Idee, dass Schüler in der Oberstufe jahrelang jeden Tag in der Schule sitzen müssen, unabhängig davon, ob sie den Stoff bereits beherrschen oder nicht?
Natürlich gibt es Aspekte des Schulbesuchs und des gemeinsamen Lernens und Studierens, die für andere Qualifikationen als das reine Fachwissen relevant sind – beispielsweise für das
Weitere Kostenlose Bücher