Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
soziale Miteinander und für den menschlichen Austausch, ebenso wie das Studentenleben darum herum. Auch für die wissenschaftliche Ausbildung sind der Diskurs und die unmittelbare Prüfung der eigenen Argumente im Gespräch sicherlich wertvoll. Aber zum Ende der Schullaufbahn und insbesondere im Studium oder in anderen darauf folgenden Bildungsabschnitten geht es ja nicht vorrangig um ganzheitliche pädagogisch-didaktische Konzepte, sondern um schlichten Kompetenz- und Wissenserwerb,der durch verschiedene Nachweismethoden als mehr oder minder erfolgreich bescheinigt wird. Die räumliche und zeitliche Entkoppelung anstelle von mechanisch getakteten Präsenzveranstaltungen wäre da nur konsequent.
Denkt man dies weiter, kommt man zu einem grundlegenden Umbau des Bildungssystems. Unser heutiges Bildungssystem sorgt zum Beispiel dafür, dass Menschen, die in Geschichte, Sport und Deutsch schlecht sind, aber dafür exzellent in Physik, dieses Fach trotzdem nie werden studieren können, da sie die sogenannte Hochschulzugangsberechtigung, das Abitur, nicht erwerben können. In der digitalen Gesellschaft müsste der Nachweis von Qualifikation, von angeeignetem Wissen und der Fähigkeit, es anzuwenden und zu diskutieren, im Mittelpunkt stehen, unabhängig von formalem Bildungsgrad und vom Ort des Wissenserwerbs. Vielleicht ist ein Klempner durchaus in der Lage, den Anforderungen, die an einen Geschichtsstudenten gestellt werden, gerecht zu werden? Um dies festzustellen, müsste er sich prüfen lassen können, so wie der Student. Und das könnte er unter solchen Umständen jederzeit, nebenbei, dann, wenn es ihm beliebt. Dass dieses Modell grundsätzlich funktionieren kann, zeigen Fernuniversitäten, die auf den Vor-Ort-Betrieb seit Jahren verzichten.
Berufsbildende Schulen und Hochschulen sind heute nicht mehr notwendig für den Wissenserwerb, sondern sollten sich in erster Linie als Angebote zum Diskurs verstehen. Ihre große Stärke ist nicht die Vermittlung von als gesichert geltendem Wissen – was auch immer dies sein mag – als solchem, sondern die Möglichkeit direkter Rückfragen an Experten, bei denen die Überprüfung von Argumenten und Kenntnissen in Rede und Widerrede unmittelbar erfolgen kann, auch wenn sie dadurch eingeschränkt sind, dass hierfür nur die vor Ort verfügbaren Menschen und Ressourcen zur Verfügung stehen. Wenn man den Fachdiskurs über diesen Radius hinaus erweitern will, kann man das dann über das räumlich und zeitlich entkoppelte Internet tun.
Aber dazu muss man ja auch erst mal in der Lage sein bzw. durch die Aneignung nicht nur von Wissen, sondern auch von Grundlagen und von Methoden in die Lage versetzt werden. Man muss lernen, wie man sich den Zugang zu Wissen erschließt,wie man es aufbereitet und sich aneignet. Dafür können Schulen und Hochschulen eine wichtige Hilfestellung bieten. Dafür wäre allerdings auch ein grundlegendes Umdenken vonnöten. Schulen und Hochschulen müssten sich als Vermittler von Generalkompetenzen verstehen und nicht mehr nur als einziger Ort, an dem Lernen möglich ist, und als einziger Ort, an dem Qualifikationsnachweise erworben werden können, wie fragwürdig die Bedingungen auch immer sind. Die Lehrpläne dürften nicht mehrheitlich spezialisierte Teilaspekte des Fachs widerspiegeln. Für die gewissermaßen reine Lehre, die pure Wissensvermittlung, früher elementarer Bestandteil des Betriebs und damit Existenzberechtigung einer Universität, gibt es jedenfalls inzwischen andere Quellen.
Die allwissende Müllhalde
Die Fülle von Informationen und Expertenwissen, die über das Internet erschlossen werden kann, ist uferlos. Mit dieser Fülle verfügbarer Information stellt sich aber auch die Frage, was wir eigentlich wirklich wissen. Haben Sie schon einmal von Nupedia (»Newpedia«) gehört? Nein? Nun, das ist wenig verwunderlich. Denn Nupedia war ein Fehlschlag. Im Jahr 1999 schlug ein damals ziemlich unbekannter Mann namens Jimmy Wales dem Philosophen Lawrence Sanger vor, dass man eine frei zugängliche Expertenenzyklopädie im World Wide Web starten sollte. Wales stellte Sanger dafür an, dieses Projekt zu verwirklichen. Nupedia war als komplexes System konzipiert, in dem Menschen auf der ganzen Welt ihr individuelles Wissen teilen und so zusammen mit allen anderen Menschen auf der Welt mit einem Internetzugang davon profitieren sollten.
Larry Sanger konnte sich, wie er später schrieb, nicht vorstellen, dass eine vertrauenswürdige
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