Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
Enzyklopädie ohne eine Überprüfung durch »echte« Experten funktionieren könnte. Doch der komplexe Prozess mit sieben Prüfstufen, dem sich Nupedia selbst unterworfen hatte, wirkte nicht wie eine Einladung zum Mitmachen, sondern abschreckend. Ganze 12 Einträge durchliefen diesen Prozess im Jahr 2000. Wesentlich weniger, als es sich Wales und Sanger erhofft hatten. Also entschieden sie sichdafür, dem Nupedia-Projekt eine kleine Plattform zur Seite zu stellen, deren Software einfach zu bedienen war und weitgehend von Hürden befreit daherkam: Wikipedia.com. Mit drei Klicks konnte jeder Internetnutzer auf der Seite Einträge erstellen, ändern und bald auch auf einer separaten Unterseite zum Eintrag diskutieren.
Seitdem haben Menschen fast vier Millionen Artikel in der englischsprachigen Wikipedia angelegt, fast eine halbe Milliarde Mal wurden Seiten nach dem Start 2001 verändert. In der kanadischen Kinder-Fernsehserie ›Fraggle Rock‹, die auch in Deutschland gesendet wurde (Die Fraggles), gibt es eine »Allwissende Müllhalde« namens Marjorie. In Reminiszenz daran werden die Wikipedia oder auch das ganze Internet oft so genannt. Es ist wirklich erstaunlich, zu was es alles inzwischen Wikipedia-Einträge gibt. Obwohl das zum Mitarbeiten nicht notwendig ist, haben sich an die 15 Millionen Nutzer bei der Wikipedia registriert, um zusätzliche Eigenschaften nutzen zu können. Wikipedia erstaunte die Macher, die Nutzer und die Medien: Menschen fingen an, Wissen zusammenzutragen. Auch hierfür braucht es Regeln. Eine der wichtigsten ist auch bereits ein Erbe der Nupedia: der neutrale Standpunkt. Artikel sollen so neutral wie möglich formuliert sein, ohne Meinung und Wertung auskommen.
Weder Jimmy Wales noch Larry Sanger konnten damals ahnen, dass die Wikipedia irgendwann einmal das Standardnachschlagewerk für oberflächliche Recherchen sein würde. Und was sie noch weniger ahnen konnten: Tatsächlich wird die Wikipedia heute in vielen Fällen als Live-Lexikon benutzt. Im Krieg zwischen Israel und Libanon im Jahr 2006 wurden von den Nutzern alle relevanten Ereignisse, Daten, Geschehnisse fast live mitprotokolliert, sobald eine externe Quelle dafür verfügbar war. Selbstredend prallten dabei die unterschiedlichen Sichtweisen aus Israel, Libanon und von Dritten auch in der Wikipedia kaum gebremst aufeinander. Dennoch ist es in vielen Fällen besser, sich den Artikel und seine letzten Veränderungen anzuschauen, als die deutschen Tageszeitungen zum Thema zu konsultieren. Kaum eine von ihnen hat mehr geleistet als die internationalen Onlinenachrichten zu bringen.
Die große Stärke der Wikipedia und ihrer Artverwandten ist nicht die Auflistung von »Wissen«, sondern, dass dieses Wissendiskutiert werden kann. Wer sich mit dem Entstehen von Wissen beschäftigt hat, kennt das Problem nur zu gut: Was heute als gesichert gilt, ist morgen überholt – und wird an anderer Stelle als falsch, als unwahr oder unvollständig angesehen. Eines der besten Beispiele ist die Geschichtsschreibung. Sie soll festhalten, wie es »eigentlich gewesen ist« mit Ereignissen, Personen und Schauplätzen. Aber die Geschichte der Geschichtsschreibung zeigt, dass es sehr unterschiedliche Ansichten darüber geben kann, was eigentlich gewesen ist. Das beginnt schon bei Kleinigkeiten. Für die meisten Deutschen ist klar, dass die Entdeckerin der Radioaktivität und Chemie-Nobelpreisträgerin des Jahres 1911 Marie Curie heißt. Gibt man den Namen in der polnischen Wikipedia ein, stößt man auf: Maria Skłodowska-Curie. Die Forscherin ist in Polen geboren, und ihre Rezeptionsgeschichte ist in unserer östlichen Nachbarrepublik eine andere als bei uns. Wer hat eigentlich das Telefon erfunden? In den USA lernen die Kinder: Alexander Graham Bell. In Deutschland lernten sie: Johann Philipp Reis. In Ungarn: Tivadar Puskás. In Italien stritt man sich darüber, ob man diese Erfindung eher Antonio Meucci oder Innocenzi Manzetti zuschreiben soll. Das klassische Telefon ist zwar inzwischen funktional am Ende seiner Laufbahn angekommen, doch das Grundproblem für historisches »Wissen« bleibt. Wie heißt es in einem alten Witz: »Die größte historische Leistung der Österreicher? Aus Beethoven einen Österreicher und aus Hitler einen Deutschen gemacht zu haben.« Wie Geschichte interpretiert wird, welche Nationen wen für sich vereinnahmen dürfen oder sollten, welche Leistung wann von wem wie erbracht wurden, kann sehr
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