Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
war, dass sie vorhandene Missstände bei der Pflege älterer Menschen in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete, auch bei der Staatsanwaltschaft anzeigen und somit an die Öffentlichkeit bringen durfte, hat noch nicht viel mit der digitalen Welt zu tun. Man hatte ihr dafür gekündigt. Aber das Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass die Bundesrepublik auf diese Möglichkeit – nämlich nach sorgfältiger Prüfung Missstände in einer Firma oder Organisation, vielleicht auch Behörde, aufzeigen zu können und darin etwas Positives für die gesamte Gesellschaft zu sehen – kein bisschen vorbereitet war. Das deutsche Recht ließ die Pflegerin einfach im Regen stehen. Man muss nicht lange nachdenken, um zu dem Schluss zu kommen, dass dieses UrteilSignalwirkung hat: Man kann niemandem fristlos kündigen, nur weil dieser eine unterdrückte und unerwünschte Wahrheit spricht.
Die Altenpflegerin hat in den USA – einem Land, in dem Whistleblower sehr viel mehr Aufsehen erregen – wohl einen Verwandten im Geiste. Einen Mann, der ungleich berühmter ist, obwohl er noch nie ein Interview gegeben hat. Er hat einen Wikipedia-Eintrag, er sieht überaus harmlos aus, ist bei Erscheinen dieses Buches gerade einmal 24 Jahre jung. Und doch ist er schon bei amerikanischen Nationalisten, arabischen Machthabern und Teilen der U S-Regierung zu einem der meistgehassten Menschen geworden.
Der junge Mann heißt Bradley Manning, auf absehbare Zeit wohnhaft in Zellen von U S-Militärgefängnissen . Im Netz ist er wohl der bekannteste Häftling der Welt, der ehemalige Obergefreite der U S-Armee , ehemals stationiert in der Nähe von Bagdad. Er hatte Zugang zu SIPRnet, einem militärischen Netzwerk der U S-Streitkräfte und des Außenministeriums, des State Department. Und aus diesem Netz entfleuchten Daten – angeblich als CDs, mit dem Namen der bekannten U S-Popsängerin »Lady Gaga« beschriftet, aus dem Sicherheitsbereich der U S-Armee . Diese Daten hatten es in sich.
Das alles fressende Loch im Internet: WikiLeaks
Die Daten fanden ihren Weg zu WikiLeaks, der Plattform, die wie keine andere in den vergangenen Jahren radikale Transparenz herbeiführte. So umstritten er in der Öffentlichkeit aufgrund anderer Dinge ist und, das dürfen wir wohl auch sagen, da wir ihn beide getroffen haben, so unnahbar Julian Assange als Mensch wirkt, so kompromisslos und zielstrebig ging der Gründer von WikiLeaks von Beginn an mit seiner Plattform vor. Er hatte von Beginn an ein klares Ziel vor Augen: den Mächtigen dieser Welt gewaltig auf die Finger zu klopfen und publik zu machen, was schief läuft. Das ist ihm auch gelungen. Binnen kurzer Zeit wurde er von einem absoluten Nobody zu einem der bekanntesten Menschen des Planeten. Die Leser des ›Time Magazine‹ hätten ihn gerne zum Mann des Jahres 2010 gewählt.
Zunächst war WikiLeaks eine Plattform, von der kaum jemand wusste. Die Idee dahinter war einfach: Man nehme Dokumente, die normalerweise nicht öffentlich sind. Und stelle sie dann ins Internet. Anfangs war WikiLeaks vor allem in Hackerkreisen bekannt. Der Wunsch nach schnellen Erfolgen der Aktivisten rund um Julian Assange sorgte auch für die eine oder andere kleinere Ente, also Falschmeldung, auf der Plattform. Die Idee wurde zwar von vielen als gut empfunden, was aber fehlte, war ein wie auch immer gearteter, großer Erfolg. Der sollte kommen.
WikiLeaks veröffentlichte unter dem Namen »Collateral Murder« ein Video aus dem Irak. Es handelte sich um Aufnahmen aus einem U S-Militärhelikopter , die zeigten, wie die Besatzung auf Menschen schoss, die sie offenbar für Aufständische hielt. Darunter waren jedoch auch zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Doch das war erst der Auftakt zu der radikalen Transparenz, die Julian Assange im Sinn hatte. Was Julian Assange und seine damaligen Mitstreiter verband, war die Überzeugung, dass Wissen und Macht nur allzu oft missbraucht würden.
Es ist das Wesen moderner Staaten, ob demokratisch oder nicht, dass sie eine Unmenge an Dokumenten, an »Aktenlage«, schaffen. Was wichtig ist, wird als Verordnung, Anordnung, Befehl, Meldung oder Bericht von oben nach unten, von unten nach oben und quer durch die Hierarchien zuständiger Behörden, Militärs und Ministerien gereicht. In den arbeitsteilig organisierten Regierungen und Organisationen ist es heutzutage fast ausgeschlossen, relevante Dinge nicht zu verschriftlichen. Macht wird ausgeübt, indem Wissen in schriftlicher
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