Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
plötzlich aus der anonymen Masse heraustreten. Das wird unser Verhältnis zur Globalisierung und zu wirtschaftlichen Aspekten mindestens genauso verändern, wie es die Schnell-Billig-Mentalität der letzten Jahrzehnte getan hat. Das Netz hält uns auch hier wieder den Spiegel unseres Handelns, unserer bewussten und unbewusstenEntscheidungen vor: Es kann für mehr Transparenz sorgen und uns zum Nachdenken darüber bringen, ob unser Handeln unseren ethischen und moralischen Maßstäben wirklich entspricht.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt
Auch auf anderen Ebenen führt die Digitalisierung zu enormen Veränderungen. Wenn früher die klassische Organisationsstruktur von Arbeit und Wirtschaft an einen spezifischen Ort gekoppelt war – das Büro oder das Fließband, den »Arbeitsplatz« eben, dann muss dies schon heute bei diversen Tätigkeiten nicht mehr sein. Es wird immer Berufe geben, deren Ausübung definitiv mit einem Standort verbunden ist. Dort stehen die Maschinen, dort sind die Waren. Die Verkäuferin an der Fleischtheke des Supermarktes beispielsweise kann schlecht als »Telearbeiter« von zuhause aus arbeiten. Der Müllwerker, die Bauarbeiterin und der Postbote werden ihre Berufe auf absehbare Zeit nicht von einem beliebigen Ort auf der Welt aus ausüben können. So wenig wie Kindergärtner.
Doch bei allen Berufen, die von Kommunikation und der Verfügbarkeit von Wissen geprägt sind, ist die traditionelle Anwesenheit am Arbeitsplatz künftig in Frage gestellt. Die oft eher abfällig so bezeichneten Café-Arbeiter der digitalen Bohème nehmen diese Entwicklung vorweg: Für ihre Tätigkeit ist heute nicht mehr der Standort der Arbeit, sondern die Verfügbarkeit des Arbeitsgerätes, des Computers, und der Zugang zur Kommunikations- und Wissensinfrastruktur, dem Internet, maßgeblich. Heute gehen die meisten Angestellten noch morgens ins Büro oder fahren – manchmal sogar stundenlang – zur Arbeit. Dort setzen sie sich an einen Computer und benutzen ein Telefon. Am Ende des Arbeitstages fahren sie wieder nach Hause. In der Zwischenzeit haben sie oft kaum direkt mit Kollegen interagiert, abgesehen von E-Mails und Haustelefonaten. Vielleicht haben sie Ordner aus dem Regal gezogen, weil es nach wie vor viele Arbeitsunterlagen gibt, die nicht digitalisiert sind. Wenn Letzteres anders wäre, dann gäbe es eigentlich gar keinen Grund mehr, warum der Arbeitgeber für diese Tätigkeit noch einen festen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen sollte. Es gibt gute Gründe dafür,dies dennoch zu tun. Aber sie haben nichts mit dem eigentlichen Arbeitsablauf vor Ort zu tun. Dieser historische Zwang kann bald hinfällig sein. Wenn es so kommt, dann entstehen daraus neue Herausforderungen, nicht nur sozialer und gesellschaftlicher, sondern auch ganz pragmatischer Art.
Wie verhält es sich zum Beispiel mit Arbeitsunfällen, wenn es keinen spezifischen Standort für die Arbeitszeit mehr gibt? Ein Beispiel aus der persönlichen Praxis: Es war Sommer und schönes Wetter. Alles, was Falk Lüke an dem Tag brauchte, waren die Ruhe zum Arbeiten, ein Internetzugang und ein Computer. Er hatte einen nigelnagelneuen Laptop, dessen Akku lange hielt. Das sollte sich als Nachteil erweisen. Denn er legte sich in kurzen Hosen in einen Berliner Park, schrieb, telefonierte, schrieb und schrieb. Und zog sich einen gewaltigen Sonnenbrand zu. Das wäre im Büro natürlich nicht passiert. Wäre aber etwas Schlimmeres passiert, wäre dies dann ein Arbeitsunfall im klassischen Sinne gewesen?
Mit solchen zukünftigen Entwicklungen sind große Befürchtungen verbunden. Die Gewerkschaften unterstellen jedem Arbeitgeber, der Heimarbeit einführt, ohnehin, dass er einfach nur Kosten sparen will. Abgesehen davon lockert sich durch diese Arbeitsweise die Bindung an den Arbeitgeber, der Kontakt zu den Kollegen schwindet, die soziale Vereinsamung wächst. Wenn die Trennung zwischen Arbeitsplatz und Privatleben vollständig aufgehoben ist, dann gibt es auch keine echte Freizeit mehr. Außerdem wird die totale digitale Verfügbarkeit erwartet, deren Folgen ja auch schon bei Menschen mit einem festen Arbeitsplatz zu Burnout und anderen Katastrophen führen. Das individuelle Zeitmanagement und die Arbeitsdisziplin verlangen dem Einzelnen Erhebliches ab.
Diese Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen. Sie verhindern allerdings oft auch eine konstruktive und zukunftsweisende Auseinandersetzung mit dem Thema. Die flexible Handhabung der
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