Die Donovans 4: Der verzauberte Fremde
dass sie ihn verletzt hatte. „Ich werde es ihm ausrichten. Lass von dir hören. Wir wollen doch wissen, wie es dir geht.“
„Natürlich. Es war nett von dir, anzurufen. Ich … äh … werde dir diese Woche noch einen langen Brief schreiben.“
„Das würde mich sehr freuen. Auf Wiederhören, Rowan.“
Als sie den Hörer auflegte, war ihre gute Laune endgültig dahin. Sie betrachtete das Chaos in der Küche. Reumütig machte sie sich ans Aufräumen und packte die Kekse in eine Dose, um sie in den Schrank zu stellen.
„Nein, ich werde nicht mit dem Grübeln anfangen. Absolut nicht.“
Sie holte die Keksdose wieder hervor, füllte die Hälfte in eine Plastikbox um, griff ihre Jacke vom Garderobenhaken und verließ das Haus.
Sie wusste nicht, wo Liams Haus lag, aber er hatte gesagt, dass er näher am Meer wohnte. Es war nur vernünftig, wenn sie herausfand, wo seine Hütte war. Falls mal ein Notfall eintreten sollte … Sie würde eben einen Spaziergang machen, und wenn sie die Hütte nicht fand … Sie rüttelte die Keksdose. Nun, verhungern würde sie auf jeden Fall nicht.
Rowan ging in den Wald hinein, erneut fasziniert davon, wie viel kühler und grüner es hier war. Vogelgezwitscher war zu hören, die Blätter raschelten, und der Duft von Tannen lag in der Luft. Wo das Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen gelangte, warf es goldene Punkte auf den Waldboden und ließ das Wasser des kleinen Flusses aufblitzen.
Je weiter sie in den Wald hineinging, umso mehr hob sich ihre Stimmung wieder. Sie blieb kurz stehen, schloss die Augen und ließ den Wind mit ihren Haaren spielen. Ihre Wangen streicheln. Wie sollte sie dieses Gefühl je einem Mann wie Alan erklären? Alan, bei dem jeder Gedanke von Vernunft bestimmt, jeder Schritt wohlüberlegt und abgewogen war.
Wie konnte sie ihm oder irgendjemandem aus der Welt, aus der sie fortgelaufen war, verständlich machen, was es hieß, sich nach etwas so Körperlosem wie der Musik des Waldes, dem Duft des Meeres zu sehnen?
Frieden zu empfinden, wenn man einfach nur dastand, in etwas so Großem und so Lebendigem?
„Ich gehe nicht mehr dorthin zurück.“
Die Worte, ihre eigene Stimme ließen sie überrascht die Augen aufreißen. Ihr war nie bewusst gewesen, dass sie überhaupt eine Entscheidung getroffen hatte, geschweige denn eine so gewaltige. Das leise Lachen, das ihr entfuhr, enthielt eindeutig Triumph. „Ich werde nicht zurückkehren“, bekräftigte sie noch einmal und lachte wieder, diesmal länger, anhaltender und herzlicher, und wirbelte einmal um die eigene Achse. Ihre Schritte waren jetzt viel beschwingter, als sie weiterging und den Pfad nach rechts einschlug. Plötzlich erhaschte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu ihrer Seite, wie ein weißer Blitz. Sie drehte sich um und starrte mit offenem Mund voller Staunen auf das weiße Reh.
So sahen sie einander über den dahinfließenden Fluss an, das Reh mit goldenen Augen und einem schneeweißen Fell und die Frau mit vor Bewunderung und Ehrfurcht geröteten Wangen.
Fasziniert trat Rowan näher. Das Reh blieb stehen, würdevoll und elegant wie eine Statue aus Eis. Dann hob es den Kopf, drehte sich geschmeidig um und verschwand zwischen den Bäumen. Ohne einen Moment zu zögern, beeilte Rowan sich, den Fluss zu überqueren, benutzte rund gewaschene Felsblöcke als Trittsteine. Sie erkannte den Pfad sofort, dann sah sie das Reh, wie ein springender weißer Lichtblitz zwischen den Bäumen.
Sie eilte dem Tier nach, folgte ihm auf Schritt und Tritt. Doch das Reh hielt den Vorsprung. Und dann stand Rowan plötzlich auf einer Lichtung, ein perfekter Kreis von weicher Erde, umgeben von majestätischen Bäumen. In diesem Kreis gab es einen weiteren, kleineren Kreis, gebildet aus dunkelgrauen Steinblöcken, der kleinste ge rade schulterhoch, der größte ragte über Rowans Kopf hinaus.
Erstaunt berührte sie den Stein, der ihr am nächsten war, mit den Fingerspitzen. Und meinte eine Vibration zu verspüren, wie Harfensaiten, die gezupft wurden. Irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf hörte sie den Klang, der Antwort gab.
Ein Steinkreis in Oregon? Höchst unwahrscheinlich. Und doch war er hier. Er wirkte keineswegs neu, aber anders konnte es doch gar nicht sein.
Würde er aus grauer Vorzeit stammen, hätte man bestimmt längst von ihm gewusst. Zeitungen hätten darüber berichtet, Touristen wären gekommen, Forscher, Historiker …
Neugierig trat sie zwischen zwei Steinblöcken hindurch, wich aber
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