Die Dornen der Rose (German Edition)
schlagen und sie von Osten her betreten.«
Leise Klaviermusik drang aus dem Salon zu ihnen. Es war immer noch helllichter Tag, trotzdem waren bereits Männer eingetroffen, um mit den Mädchen zu trinken. Jeden Tag kamen sie früher. Es gab nur wenige Salons in Paris, wo der Wein so reichlich floss und man sich keine Gedanken darüber machen musste, was man sagte. Männer gingen für gewöhnlich davon aus, dass in einem Bordell geäußerte Ansichten nicht gleich an die Geheimpolizei weitergeleitet wurden.
Damit hatten sie nicht unrecht, doch ganz richtig war es auch nicht. Madame entschied darüber, welche Indiskretionen der Geheimpolizei zugetragen wurden. Sie war eine der wichtigsten Nachrichtenübermittlerinnen.
»Wenn es so wenig konkrete Angaben über die Ankunft William Doyles gibt, wäre es eine große Zeitverschwendung, wenn man mich dazu abstellen würde, eine der barrières im Auge zu behalten.« Justine traute sich, so offen und direkt mit Madame zu reden. Sie war zwar jung, aber keine der rangniedersten Mitarbeiterinnen der Geheimpolizei. »Wo soll ich auf ihn warten – auf diesen englischen Spion?«
»Ich denke … im Hôtel de Fleurignac. De Fleurignacs Zuhause. Ich möchte unbedingt wissen, wer dort aus- und eingeht. William Doyle wird dort früher oder später auftauchen. Hier. Nimm das, bitte.« Sie reichte Justine die Untertasse.
Auf der Anrichte stand neben Likören und gutem Wein auch ein Krug mit sauberem Wasser. Sie kippte die ganze Sudelei aus Kaffee und Asche in eine Waschschüssel und spülte die Untertasse, kam zurück und trocknete das Tellerchen mit einem weichen Tuch. Dann stellte sie alles sorgfältig auf das Tablett. Sie wusste schon, welcher Wunsch als Nächstes an sie herangetragen werden würde, und goss wieder Kaffee ein. »Die Briten sind sich sicher, dass es diese Verbindung mit de Fleurignac gibt? Zwischen den Morden und seinen Besuchen in England?«
»Monsieur Doyle ist derjenige, der das herausgefunden hat. Er hat viele geschickte Fragen über die ermordeten Männer gestellt und ist auf diesen törichten französischen Gelehrten gestoßen, der sie alle beobachtet und ganze Notizbücher mit ihren Geschichten gefüllt hatte, um dann solch absurde Theorien aufzustellen. Monsieur ist der bei Weitem beste Auslandsspion des britischen Geheimdienstes. Es freut mich ungemein, dass unser Feind seine besten Leute schickt, um unsere Arbeit für uns erledigen zu lassen.«
Sie möchte, dass ich verstehe, was sie mir sagen will. Damit ich zeige, dass ich schlau bin . »William Doyle soll also nicht umgebracht werden.«
»Sei nicht so blutrünstig, Kindchen. Es gibt in diesen Dingen Konventionen, die eingehalten werden. Sei froh, dass die Briten die alten Gepflogenheiten beachten und kein Gemetzel unter unseren Leuten veranstalten. Wir werden ihn auf jeden Fall diese ärgerliche Liste von de Fleurignac finden und die Morde an jungen Männern beenden lassen. Vielleicht findet er ja sogar heraus, welche Franzosen für diese Gräueltaten verantwortlich sind. Und dann«, Madame nahm einen zierlichen Schluck von ihrem Kaffee, »werden wir sehen, was aus William Doyle wird.« Sie stellte die Tasse ab. »Du musst dich für heute Abend schön machen. Zieh das mit Nelken bestickte Kleid mit der Schärpe an. Es steht dir hervorragend.«
Einen Moment lang … nur einen ganz kurzen Moment lang … war ihr übel und sie hatte Angst. Denn wenn sie sich vor einem Jahr schön gemacht hatte, war von ihr verlangt worden, dass sie Männer unterhielt … so wie Huren es taten. Es hatte bedeutet …
»Kindchen, ich habe dir keinen Schrecken einjagen wollen.« Madame legte die Hand beruhigend auf ihren Arm. »Ach, wie ungeschickt von mir. Entschuldige. Das sollst du natürlich nicht tun. Nie mehr, das habe ich dir versprochen. Wir werden heute Abend die Oper besuchen. Mehr nicht. Wir gehen hin – du, ich und Bürger Soulier – um deinen Geburtstag zu feiern.«
Freude, reine, unverfälschte Freude erfüllte sie. Weil sie nichts befürchten musste und Madame sich an ihren Geburtstag erinnert hatte. Sie würden sich ein Stück anschauen und sich amüsieren, und hinterher würde Soulier sie vielleicht noch zum Boulevard des Italiens mitnehmen, damit sie Eis essen konnten.
»Werden Sie mir Kuchen kaufen? Darf ich für Séverine Kuchen mit nach Hause nehmen?« Sie war unverschämt. Doch wenn Madame sich Sorgen machte, dass Erinnerungen an die Vergangenheit sie erschreckt haben könnten, würde sie den
Weitere Kostenlose Bücher