Die Dornen der Rose (German Edition)
ich gründlich bade, bin ich in ein oder zwei Wochen vielleicht wieder ein Mensch.«
Nachdem Olivie sie allein gelassen hatte, zog sie das Mieder aus und ließ das Unterkleid zu Boden fallen. Dann stieg sie in die Wanne, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Offenbar konnte sie an nichts denken, was nicht wehgetan hätte. Also würde sie überhaupt nicht denken. Sie hatte eine Stunde, vielleicht auch mehr, ehe Jean-Paul die Seine überquerte und vom Jardin des Plantes am linken Ufer zu ihr kam. Sie würde noch genug Zeit zum Nachdenken haben, wenn er da war.
22
Hawker stand einen Augenblick lang da, nahm alles in sich auf und kratzte sich unter dem Arm gemäß dem Motto, dass jemand, der sich kratzte, harmlos wirkte.
Es war schon seltsam, in einer Stadt zu sein, in der einem nichts vertraut war. Überall um ihn herum, kilometerweit in alle Richtungen, gab es Orte, an denen er noch nie gewesen war. Überall das Gemurmel einer Sprache, die er nicht von Kindheit an gelernt hatte. Und dieses Nachdenken jedes Mal, ehe er etwas sagte.
Und dann diese Kleidung. Zu Hause hatte er Sachen getragen, die auch mal ein bisschen Farbe besaßen. Man kannte ihn in London. Er hatte einen Ruf, dem er gerecht werden musste. Drei Jahre lang war er die rechte Hand von Lazarus gewesen. Er hatte Menschen getötet. Seine Kumpane erwarteten da schon ein gewisses Maß an Stil.
In Paris war er unsichtbar; er verschmolz mit der Stadt.
Sogar die Gerüche waren falsch. Saurer Wein statt Bier. Brandy, nicht Gin. Knoblauch und irgendwelche Kräuter, deren Duft aus den Essstuben wehte. Alles einfach nur fremdländisch.
Es war seltsam, so ohne die verdammten Esel durch die Straßen zu wandern.
Schon komisch, wie es ihm schließlich klar geworden war. Diese Esel waren nur ein Vorwand gewesen. Keiner sah den Mann an, der die Esel führte. Man sah immer nur die Tiere. Wenn man zwei Esel dabeihatte, konnte man stehen bleiben, wo man wollte, und niemand fand es seltsam. Man konnte die Hufe untersuchen. Wenn man es richtig machte, war das ohnehin eine Aufgabe, die einen den größten Teil des Tages in Atem hielt.
Die Daumen in den Bund seiner Hose gehakt, spazierte er die Straße entlang. Osten war in der Richtung. Man brauchte sich nur ein paar Sekunden an den Schatten zu orientieren, um das zu wissen. Das war noch so ein Trick, den er von Doyle gelernt hatte. Behalt die Sonne im Auge. Leg dir im Kopf eine Karte an. Behalt immer im Kopf, wo du bist. Überleg dir jede Sekunde, in welche Richtung du flüchten kannst. Diese Kerle mit den strengen Gesichtern in der Meeks Street hatten an die hundert Karten voller Anmerkungen. Sie hatten ihn stundenlang darüber brüten lassen. Er hatte Paris bereits wie seine Westentasche gekannt, ehe er auch nur einen Fuß in die Stadt gesetzt hatte.
Früher hatte er sich nie wegen irgendwelcher Karten Gedanken machen müssen. Nicht in London.
Seh so aus, als wüsstest du, wo du hin willst . Das war auch etwas, was Doyle so beiläufig fallen ließ. Es waren so endlos viele Dinge, die Doyle über seine Arbeit wusste. Er nannte sie »das Spiel«. Das klang irgendwie richtig. Das Spiel.
Er musste so viel wie möglich von Doyle lernen, ehe sie sich trennten. Ehe einem von beiden die Kehle durchgeschnitten wurde.
Rue de Montreuil. Er wusste, wo er war. Mehrmals formte er mit den Lippen den Namen Rue de Montreuil und übte die Aussprache. Man gab den Straßen hier Namen. Ritzte sie mancherorts gleich in die Hauswand. Man sollte doch annehmen, dass die Leute, die hier lebten, wussten, wo sie waren. Und wen scherte es schon, wenn jemand nicht aus der Gegend kam und zu dumm war zu fragen, wo er sich befand.
Komisches Volk, diese Franzosen.
Le Brochet würde nicht schwer zu finden sein. An einem Tag wie diesem, heiß wie im Hades, würde er in irgendeiner Taverne sitzen und seine Kehle kühlen. Er würde sich im Umkreis von hundert Metern befinden. Männer wie er hielten sich an ihr Zuhause und erledigten das Trinken mit Freunden. Es war gefährlich, hinter einem Kerl her zu sein, der mit seinen Kumpels zusammen war.
Doyle gab Pax mit einem Zeichen zu verstehen, die Position an der Spitze einzunehmen, und fiel selber zurück. Man brauchte drei Männer, um jemanden wie Hawker zu verfolgen. So war das beim Geheimdienst. Man hatte nie genug Leute.
Pax setzte das Brett ab, das er trug, und zog eine Mütze aus der Tasche.
Hawker sah wie ein Franzose aus. Er ging wie ein Franzose, er bewegte seine Hände wie ein
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