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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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größer, als sie für Sie ist.«
    »Ist dies das einzige Exemplar?« »Soweit ich weiß, ja.«
    »Und sie hat es Ihnen erst in der vergangenen Nacht gegeben?« »Ja.«
    »Und weshalb haben Sie es dann nicht vernichtet, um sicherzugehen, daß der alte Paddy bekommt, was ihm von Rechts wegen zusteht? Die Kirche jedenfalls hat nicht das geringste Recht auf Mary Carsons Besitztümer.«
    Der Blick aus den schönen Augen des Priesters wirkte sehr mild. »Oh, das wäre doch wirklich nicht zu vertreten gewesen, Harry, nicht wahr? Schließlich handelte es sich um Marys Besitz, und sie konnte in jeder ihr richtig erscheinenden Weise darüber verfügen.« »Ich werde Paddy raten, das Testament anzufechten.« »Das sollten Sie auch, meine ich.«
    Und damit trennten sie sich. Als dann am Morgen die Trauergäste zu Mary Carsons Begräbnis eintrafen, wußte man überall in Gillanbone, ja, praktisch überall auf dem Erdball, an wen das riesige Vermögen fallen würde. Und gefallen waren somit auch die Würfel, ein Zurück gab es nicht mehr.
    Als Pater Ralph, das letzte Tor hinter sich lassend, wieder auf die Home Paddock gelangte, war es bereits vier Uhr früh. Er hatte sich bei der Rückfahrt Zeit gelassen, sehr viel Zeit, hatte sein Gehirn zu fast völliger Gedankenleere geradezu gezwungen. Nicht an Paddy dachte er und nicht an Fee und nicht an Meggie; und schon gar nicht an jenen widerlich stinkenden und inzwischen wohl breiig zerflossenen Kadaver, der, wie er aus tiefster Seele hoffte, jetzt im Sarg lag. Nein, daran verschwendete er so gut wie keinen Gedanken. Statt dessen öffnete er seine Augen und sein Gemüt der Nacht: den gespenstigen Silberkonturen toter Bäume, die einsam im schimmernden Gras standen, hier und da und dort, den Schatten bei dieser und bei jener Baumgruppe, deutlich nach Kern- und nach Halbschatten zu unterscheiden, der vollgerundeten Mondscheibe, die, einer Seifenblase gleich, in fernen Himmelsregionen schwebte. Einmal stieg er aus, um - während er an einen Zaun gelehnt stand - tief den Duft der Eukalyptusbäume und der Wildblumen einzuatmen. Dieses Land war so wunderschön und so rein, und die Schicksale derer, die es zu beherrschen glaubten, kümmerte es wenig. Was immer die Menschen auch taten, um ihre vermeintliche Herrschaft über das Land zu festigen, am Ende blieb das Land Herrscher über sie.
    Er parkte sein Auto in einiger Entfernung hinter dem Haus und ging dann langsam darauf zu. Alle Fenster waren erleuchtet. Vom Quartier der Haushälterin her hörte er Stimmen. Mrs. Smith und die beiden irischen Dienstmädchen beteten gemeinsam den Rosenkranz. Dann sah er, unmittelbar bei den Wisterienranken, ein sich bewegendes Etwas, einen undefinierbaren Schatten, und er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Die Erinnerung an diese alte Spinne konnte einen wahrhaftig Gespenster sehen lassen. Doch es war Meggie, die offenbar geduldig auf ihn gewartet hatte. Sie trug ihre Jodhpurs und die Halbstiefel - nein, wirklich kein Gespenst, ein sehr lebendiger Mensch. »Du hast mich erschreckt«, sagte er abrupt.
    »Tut mir leid, Pater, das wollte ich wirklich nicht. Aber ich wollte auch nicht drin bei Daddy und den Jungen bleiben. Mum ist mit den Kleinen noch in unserem Haus. Eigentlich sollte ich wohl mit Mrs. Smith und Minnie und Cat beten, aber mir ist nicht danach zumute, für sie zu beten. Das ist eine Sünde, nicht wahr?« Es war ihm zuwider, die Erinnerung an Mary Carson auch nur durch ein zufälliges Wort zu beschwören. »Nein, Meggie«, sagte er, »ich glaube nicht, daß das eine Sünde ist. Heuchelei hingegen wäre eine. Auch mir ist nicht danach zumute, für sie zu beten. Sie war keine ... kein sehr guter Mensch.« Er lächelte. »Solltest du also gesündigt haben, indem du deine Gefühle offen bekannt hast, um wieviel mehr dann ich, der ich doch alle Menschen lieben soll, eine Last, die dir nicht auferlegt ist.«
    »Pater«, fragte sie, »Pater, was ist mit Ihnen?«
    »Nichts, gar nichts. Was sollte mit mir sein?« Er blickte zum Haus und seufzte. »Ich möchte nicht dort drinnen sein, das ist alles. Ich möchte nicht dort sein, wo sie ist, bis es hell wird und die Dämonen der Finsternis vertrieben sind. Wenn ich die Pferde sattle, würdest du bis zum Morgengrauen mit mir reiten?«
    Ihre Hand berührte seinen schwarzen Ärmel. »Ich möchte auch nicht ins Haus gehen.«
    »Dann warte einige Sekunden, während ich meine Soutane ins Auto lege.«
    »Ich gehe schon zu den Stallungen

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