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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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mit Meggie kommen, dem anderen weiblichen Pol. Ja, er schien seine Selbstironie zurückzugewinnen, die amüsierte Distanziertheit zum eigenen Ich; das konnte sie nicht lange zerstören, die alte Spinne, das nicht. Die heimtückische alte Spinne. Gott verdamme sie, Gott verdamme sie!
    »Meggie, Liebling, weine doch nicht«, sagte er und setzte sich neben sie auf das taufrische Gras. »Gewiß hast du nicht einmal ein ordentliches Taschentuch bei dir, das ist bei Frauen ja meistens so. Hier, nimm meines und trockne dir die Augen; sei ein braves Mädchen.« Sie tat es.
    »Du hast ja immer noch dasselbe Kleid an wie auf der Party. Sitzt du denn schon seit Mitternacht hier?« »Ja.«
    »Wissen Bob und Jack, wo du bist?« »Ich habe ihnen gesagt, daß ich schlafen gehe.« »Was ist denn mit dir, Meggie? Was hast du?«
    »Pater«, sagte sie, ganz nach ihrer alten Gewohnheit, »Pater, du hast auf der Party überhaupt nicht mit mir gesprochen!« »Ah! Dachte ich’s mir doch fast! Komm, Meggie, sieh mich an!« Weit im Osten schimmerte jetzt perlgraue Helle; die tiefe, die totale Dunkelheit zerfaserte gleichsam, und die Hähne von Drogheda schrillten der Morgendämmerung einen frühen Willkommensgruß entgegen.
    Ralph de Bricassart dachte: Ihre Augen sind schön, wirklich schön. Obwohl sie doch lange geweint haben muß, nimmt das den Augen nichts von ihrer Schönheit. Sie wirken gar nicht... verheult. »Meggie, du warst auf der Party das bei weitem hübscheste Mädchen, und es ist auch bekannt, daß ich viel häufiger nach Drogheda komme, als ich eigentlich müßte. Ich bin ein Priester und sollte daher über jeden Verdacht erhaben sein - ähnlich wie Cäsars Weib, wie man so sagt. Allerdings fürchte ich, daß die Leute dazu neigen, nicht ganz reine Gedanken zu haben. Für einen Priester bin ich noch jung, und ich sehe ja auch nicht schlecht aus.« Er hielt einen Augenblick inne und dachte daran, wie wohl Mary Carson eine solche Untertreibung aufgenommen hätte; er lachte lautlos. »Nun, was würde wohl geschehen, wenn ich auch nur ein bißchen aufmerksam zu dir gewesen wäre? Im Nu würde sich das in ganz Gilly herumsprechen. Überall im Distrikt würde das über die Telefondrähte schwirren. Verstehst du, was ich meine?«
    Sie schüttelte den Kopf; im anwachsenden Licht schimmerten ihre kurzgeschnittenen Locken jetzt heller.
    »Nun, du bist so jung, daß es dir noch an eigener Lebenserfahrung fehlt. Aber du mußt ja lernen, und es scheint irgendwie immer mir zuzufallen, dein Lehrer zu sein, nicht wahr? Ich meine, die Leute würden sagen, ich sei an dir als Mann interessiert, nicht als Priester.« »Pater!«.
    »Schrecklich, nicht?« Er lächelte. »Aber das würden die Leute sagen, das versichere ich dir. Siehst du, Meggie, du bist kein kleines Mädchen mehr, du bist eine junge Dame.
    Allerdings hast du es noch nicht gelernt, deine Zuneigung zu mir zu verbergen, und deshalb durfte ich auf der Party nicht mit dir sprechen - denn du würdest mich auf eine Weise angesehen haben, die man womöglich mißverstanden hätte.«
    Sie betrachtete ihn mit einem eigentümlichen Blick. Plötzlich wirkten ihre Augen undurchdringlich. Sie drehte ihren Kopf zur Seite. »Ja, ich verstehe. Dumm von mir, daß ich das nicht schon früher begriffen habe.«
    »Nun, Meggie«, sagte er, »es wird wohl das beste sein, wenn du jetzt nach Hause gehst. Wahrscheinlich schlafen ja noch alle. Aber falls einer wach ist, sitzt du in der Tinte. Daß du mit mir zusammen warst, Meggie, kannst du nicht sagen, nicht einmal zu deiner eigenen Familie.«
    Sie stand auf, sah ihn dann an. »Ich gehe, Pater. Aber ich wünschte, man würde Sie besser kennen. Dann würde man von Ihnen so etwas nie denken. Denn das ... das ist doch nicht in Ihnen, nicht wahr?« Aus irgendeinem Grunde tat das sehr weh: schmerzte viel tiefer, als Mary Carsons grausame Sticheleien das vermocht hatten. »Nein, Meggie, du hast recht. Das ist nicht in mir.« Er sprang auf, lächelte ein wenig verzerrt. »Würde es dir sonderbar vorkommen, wenn ich sagte, ich wünschte, daß das in mir wäre?« Er preßte eine Hand gegen seinen Kopf. »Nein, ich wünsche überhaupt nicht, daß das in mir wäre! Geh nach Hause, Meggie, geh nach Hause!« Ihr Gesicht wirkte wie überschattet. »Gute Nacht, Pater.« Er nahm ihre Hände, beugte sich darüber, küßte die eine, die andere. »Gute Nacht, liebste Meggie.«
    Sie ging davon, und er sah ihr nach: wie sie den Rasen überquerte, wie sie erst den einen, dann

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