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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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lächerlichen Körper bin ich noch jung - ich fühle, ich träume, ich habe meine Sehnsüchte und Wünsche, und ich bin voll Trotz und Zorn über die Beschränkungen, die mir auferlegt sind durch meinen Körper. Das Alter ist die bitterste Rache, die unser Gott an uns übt, unser rachsüchtiger Gott. Warum läßt er Geist und Gemüt nicht genauso altern wie den Körper?« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schloß die Augen. »Ich werde natürlich in die Hölle kommen. Aber bevor es soweit ist, hoffe ich, die Chance zu bekommen, Gott zu sagen, was für ein gemeines, tückisches und jämmerliches Surrogat für einen Gott er doch ist!«
    »Sie sind vor langen Jahren Witwe geworden, Mary. Gott hat Ihnen die Freiheit der Entscheidung gegeben. Sie hätten sich wiederverheiraten können. Wenn Sie das nicht getan haben und deshalb unerträglich unter Einsamkeit litten, so liegt der Fehler bei Ihnen und nicht bei Gott.«
    Sekundenlang blieb sie stumm. Mit hartem Griff spannten sich ihre Hände um die Lehnen des Sessels. Dann schien sich die eigentümliche Verkrampfung zu lösen. Der Priester sah, wie sie die Augen wieder öffnete, sah das Glitzern im rötlichen Lampenschein; doch es waren keine Tränen, es war etwas anderes, etwas, das viel härter war, schärfer, greller. Unwillkürlich hielt er den Atem an, spürte die aufsteigende Furcht. Sie sah aus wie eine Spinne. »Ralph, auf meinem Schreibtisch liegt ein Umschlag. Würden Sie ihn mir bitte bringen?«
    Beklommen erhob er sich, ging zum Schreibtisch, nahm das Kuvert, betrachtete es neugierig. Die Vorderseite war leer, kein Name, keine Adresse, nichts. Doch die Rückseite war mit rotem Wachs versiegelt, und der Siegelabdruck zeigte das große D für Drogheda und den Kopf eines Schafbocks.
    Er trat zu ihr, hielt ihr den Umschlag hin. Aber sie nahm ihn nicht. »Er gehört dir, Ralph«, sagte sie mit einem Kichern. »Er ist das Werkzeug deines Schicksals. Ja, Ralph, das ist er. Mein letzter und wirksamster Hieb in unserem langen Kampf. Was für ein Jammer, daß ich nicht mehr da sein werde, um zu erleben, was geschieht. Aber ich weiß ja, was geschehen wird, denn ich kenne dich. Ich kenne dich viel besser, als du glaubst. Unerträglicher Hochmut! In diesem Umschlag befindet sich das, was die Weichen für dein Schicksal stellt - für das, was aus deinem Leben und deiner Seele werden wird. Ich muß dich an Meggie verlieren. Aber ich habe dafür gesorgt, daß auch sie dich nicht bekommt.« »Warum hassen Sie Meggie so?«
    »Das habe ich dir schon einmal gesagt. Weil du sie so liebst.« »Aber doch nicht auf diese Weise! Sie ist das Kind, das ich nie haben kann, die Rose meines Lebens. Meggie ist für mich so etwas wie eine Idee, Mary, eine Idee!«
    Sie maß ihn mit einem höhnischen Blick. »Über deine unvergleichliche Meggie möchte ich jetzt wirklich nicht mit dir sprechen! Ich werde dich nie wiedersehen, laß uns also nicht unsere Zeit verschwenden. Der Brief. Ich möchte, daß du es auf deine Gelübde als Priester nimmst, den Brief nicht zu öffnen, bevor du meine Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen hast. Dann allerdings öffne ihn, ehe ich begraben werde. Schwöre mir das!«
    »Schwören? Aber das ist doch überflüssig, Mary. Ich tu’s auch so.« »Schwöre. Oder ich verlange den Brief zurück.« Er hob die Schultern. »Nun gut. Ich schwöre es bei meinen Gelübden als Priester. Ich werde den Brief nicht öffnen, bevor ich nicht Ihre Leiche gesehen habe. Und dann werde ich ihn öffnen, ehe Sie bestattet werden.«
    »Gut, gut!«
    »Mary, beunruhigen Sie sich nicht. Dies ist nur so eine Einbildung von Ihnen. Morgen früh werden Sie darüber lachen
    - heute morgen, meine ich.«
    »Ich werde den Morgen nicht erleben. Ich sterbe heute nacht. Ich bin nicht schwach genug, um auf das Vergnügen zu warten, dich wiederzusehen. Was für ein Umschwung! Ich gehe jetzt
    zu Bett. Würdest du mich bitte die Treppe hinaufbringen?«
    Er glaubte es ihr nicht, natürlich nicht. Doch er schwieg. Es wäre sinnlos gewesen, ihr diese Hirngespinste jetzt ausreden zu wollen. Einzig Gott entschied darüber, wann jemand starb, es sei denn, ein Mensch nahm sich selbst das Leben, was er nur konnte, weil er von seinem Schöpfer den freien Willen erhalten hatte, selbst das zu tun. Aber sie hatte ja gesagt, daß Selbstmord für sie nicht in Frage kam. Also half er ihr die Treppe hinauf, hörte ihr angestrengtes Keuchen, nahm dann oben ihre Hände und beugte sich darüber, zum Kuß. Sie

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