Die Dornenvögel
lohnenswerteres Opfer, als es mein teurer dahingeschiedener Michael je gewesen ist. Als Sie hierherkamen, waren Sie schon sehr bald auf Drogheda und mein Geld aus, Ralph, nicht wahr? In meinem Reichtum sahen Sie ein sehr brauchbares Mittel für Ihren Zweck - um sich damit gleichsam in Ihr natürliches Metier zurückkaufen zu können. Aber dann kam Meggie, und Sie gaben Ihre ursprüngliche Absicht auf, meine Freundschaft zu hegen und zu pflegen. Ich war nur noch ein Vorwand für Ihre Besuche auf Drogheda, damit Sie mit Meggie zusammen sein konnten. Da Ihnen dieser Frontwechsel so leichtgefallen zu sein scheint, frage ich mich unwillkürlich, ob Sie wohl wußten und wissen, wie groß mein Vermögen tatsächlich ist. Wissen Sie es, Ralph? Ich glaube, Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon. Es dürfte zwar kaum sehr ladylike sein, die genaue Summe zu nennen, auf die sich die im Testament angeführten Werte belaufen, doch um sicherzugehen, daß Sie von vornherein über Wesentliches im Bilde sind, wenn Sie dann eine Entscheidung treffen müssen, will ich schon an dieser Stelle sagen, daß mein Vermögen einen Wert von dreizehn Millionen Pfund darstellt.
Wie ich sehe, ist auf dem zweiten Bogen nicht mehr allzuviel Platz, und - nun, eine Abhandlung will ich ohnehin nicht schreiben. Lesen Sie also mein Testament, Ralph, und entscheiden Sie dann, was Sie damit tun. Werden Sie es zu Harry Gough bringen, damit es als gültig anerkannt werden kann, oder werden Sie es verbrennen und nie einer Menschenseele sagen, daß es überhaupt existiert hat? Das ist die Entscheidung, die Sie zu treffen haben. Ich sollte noch hinzufügen, daß es sich bei dem Testament in Harrys Büro um jenes handelt, das ich ein Jahr nach Paddys Ankunft machte. In ihm habe ich meinen Bruder als Gesamterben eingesetzt. Das macht schon recht deutlich, was auf dem Spiel steht, nicht wahr?
Ralph, ich liebe Sie, und ich hätte Sie ermorden können, weil Sie mich nicht gewollt haben; aber diese Form der Vergeltung ist bei weitem besser. Ich gehöre nicht zu den Edelmütigen. Ich liebe Sie, doch ich will, daß Sie vor Qualen schreien. Denn ich weiß, wie Sie sich entscheiden werden, verstehen Sie! Ich weiß es so genau, als ob ich hier sein könnte, um alles zu beobachten. Sie werden schreien, Ralph, Sie werden wissen, was wirkliche Qualen sind. Lesen Sie also weiter, mein schöner, ehrgeiziger Priester! Lesen Sie mein Testament und entscheiden Sie über Ihr Schicksal.«
Es fand sich keine Unterschrift, nicht einmal die Initialen. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn, fühlte die rinnenden Tropfen im Nacken. Und er wollte aufstehen, noch in derselben Sekunde, um den Brief zu verbrennen und auch das Testament: bevor er es lesen konnte. Aber sie hatte es nur zu gut verstanden, das Opfer in ihr Netz zu ziehen, die alte Spinne. Natürlich würde er weiterlesen. Die Neugier brannte viel zu sehr, als daß er hätte widerstehen können. Gott! Was hatte er denn nur jemals verbrochen, um in ihr eine solche Rachsucht zu schüren? Weshalb ließen Frauen ihn so leiden? Warum war er nicht als häßlicher Mensch auf die Welt gekommen, fratzenhaft, mißgestaltet? Dann würde er jetzt vielleicht glücklich sein. Das Testament war in derselben präzisen, ja pedantischen Handschrift niedergeschrieben wie der Brief. Die harten Buchstaben verrieten viel über die Schreiberin. Aus ihnen sprach Erbarmungslosigkeit und Grausamkeit.
»Ich, Mary Elizabeth Carson, körperlich und geistig gesund, erkläre hiermit, daß dies mein Letzter Wille und mein Testament ist, wodurch alle zuvor von mir gemachten Testamente ungültig werden. Mit Ausnahme der unten gesondert aufgeführten Legate hinterlasse ich mein gesamtes Vermögen der römisch-katholischen Kirche unter der Voraussetzung, daß folgende Bedingungen erfüllt werden:
1. Daß besagte römisch-katholische Kirche - im weiteren nur noch Kirche genannt - wisse, in welch hohem Maße ich ihren Priester, Pater Ralph de Bricassart, achte und schätze. Die Gründe für die von mir getroffene Entscheidung über meine Hinterlassenschaften hegen ausschließlich in der von ihm bewiesenen Güte sowie seinem geistlichen Rat und unermüdlichen Beistand.
2. Daß der Kirche das von mir hinterlassene Vermögen nur so lange verfügbar bleibe, wie sie besagten Pater Ralph de Bricassart als würdigen und fähigen Priester schätzt.
3. Daß besagter Pater Ralph de Bricassart verantwortlich sei für die Verwaltung meines gesamten Vermögens
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