Die Drachen Der Tinkerfarm
in einem Wirbel rötlichen Staubs –, dass sie wie am Boden dahineilende Gewitterwolken wirkten, die so weit wie möglich ziehen wollten, ehe sie ihre Regenlast entließen. Aber das Leuchten derspitzen Hörner und das Blitzen der Augen war nicht zu übersehen, auch nicht das Schillern der perlmuttartigen Hufe, die durch die Luft zuckten, wenn ein paar Jungtiere sich auf der Lichtung aufgeregt aufbäumten.
»Oh!«, sagte Lucinda neben ihm, und zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen merkte Tyler, dass seine Schwester seine Hand hielt. So ungewohnt das war, zog er sie doch nicht weg. Während die hochgewachsenen Tiere mit ihren elfenbeinernen Hörnern bockend und schnaubend vor ihm über die Lichtung donnerten, immer hin und her, war ihm zumute, als betrachtete er einen magischen Fluss, der ihn, wenn er den Kontakt zum Boden verlor, einfach mitreißen und auf Nimmerwiedersehen davonschwemmen konnte.
»Oh«, sagte seine Schwester abermals. Viel mehr gab es auch nicht zu sagen.
Die Einhörner tummelten sich so ausgelassen, dass sich schwer schätzen ließ, wie viele es waren – zwei Dutzend? Drei? Sie schienen mindestens so groß wie normale Pferde zu sein (wobei Tyler nicht viel Erfahrung mit Pferden hatte), waren aber schlanker und langbeiniger und hatten lange zottelige Mähnen und Haarbüschel auf der Brust und an den Fesseln. Doch es waren die Hörner, die aus etwas Prachtvollem etwas wahrhaft Unglaubliches machten, die spitzen Spiralen, die nicht oben aus dem Kopf kamen wie auf den schmalzigen Postern, die Lucinda immer noch bei sich an der Wand hängen hatte, sondern weiter unten wuchsen, knapp unter Augenhöhe, ähnlich wie bei einem Nashorn.
Die Herde stellte sich in Gruppen um die Tröge und fraß mit leise, fast unhörbar aneinanderklackenden Hörnern nach einer Ordnung, die Tyler nicht erkennen konnte, da sie anscheinend nicht viel mit Alter, Größe, Farbe oder sonst etwas zu tun hatte. An manchen Trögen fraßen die jungen Einhörnerzuerst, während an anderen die Kleinen geduldig warteten und ein Elterntier mit einer Mähne wie Weihnachtsschnee den Vorrang hatte.
»Sie sind wunderschön«, wiederholte Lucinda immerzu.
»Wo kommen sie her?«, fragte Tyler Ragnar, von dem er sich eher eine Antwort auf seine Fragen versprach als von Mr. Walkwell. »Was fressen sie? Müsst ihr sie jeden Tag füttern?«
»Sie kommen aus China«, antwortete Ragnar. »Jedenfalls kamen sie früher daher. Jetzt sind sie dort ausgestorben. Ki-lin wurden sie genannt. Und sie fressen Gras und andere Sachen, aber wir geben ihnen jeden Tag einen … wie lautet das Wort, Simos?«
»Vitaminzusatz«, knurrte Walkwell, der neben einem grauen ausgewachsenen Einhorn kauerte. Während es fraß, beobachtete es ihn nervös aus dem Augenwinkel, und er seinerseits untersuchte es nach etwaigen Krankheitsanzeichen.
»Ja, Vitamine«, sagte Ragnar. »Weil sie mit Gras allein nicht gesund bleiben, glaube ich. Und es sind noch andere Medikamente im Futter. Dies sind die einzigen noch lebenden Einhörner auf der Welt, deshalb müssen wir sie besonders gut pflegen.«
»Klar«, sagte Tyler. »Wahnsinn.« Er fand die Einhörner natürlich spannend, aber noch lieber wäre er zurückgefahren, um sich noch einmal den Drachen anzuschauen.
Lucinda, die anscheinend gar nicht zugehört hatte, schritt langsam auf den am nächsten stehenden Trog zu, die Augen weit aufgerissen wie unter Hypnose. Tyler hoffte sehr, sie würde nichts Peinliches machen, wie vor Glück losweinen oder sonst eine Mädchen-Einhorn-Nummer. Sie blieb erst wenige Meter vor einem der jungen Einhörner stehen, das sie mit großen grauen Augen betrachtete. Es wirkte nicht ängstlich, aberrichtig zutraulich kam es Tyler auch nicht vor. Als Lucinda nicht näher kam, senkte es wieder den Kopf und wühlte im Trog.
Walkwell und Ragnar waren zusammen ein Stück weitergegangen, um sich andere Mitglieder der Herde anzuschauen. Das perlmuttartige Horn schwenkte vor Lucinda hin und her, während das junge Einhorn fraß.
Tyler beobachtete seine Schwester, die das Tier anstarrte, als hätte sie gerade die Haustür aufgemacht und entdeckt, dass ihr Boybandschwarm Nummer eins draußen stand und sie auf ein Überraschungsdate ausführen wollte. Sie streckte vorsichtig die Hand aus, um das Horn zu berühren. Tyler überlegte sich, ob er etwas sagen sollte – die Einhörner waren wilde Tiere, da waren sie doch gefährlich, oder? Oder nicht? In so einer verrückten Situation war das schwer zu
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