Die Drachenflotte (German Edition)
«Sie haben doch nichts dagegen?», fragte sie.
«Aber nein», antwortete Knox.
Sie zeigte auf den Kran, der zu knirschen und zu ächzen begann, als er den Anker mit seinem ganzen Gewicht vom Meeresgrund anhob. «Vielleicht können wir irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist?»
Er führte sie eine Gangway hinauf, an der Dekompressionskammer des Schiffes vorbei, und blieb an der Steuerbordreling stehen. Der Wind hatte aufgefrischt, die See wurde kabbelig. Doch das dynamische Positionier-System des Schiffes war bereits in Gang gesetzt und hielt es mit seinen GPS-Sensoren, Kreiselkompassen und Strahlrudern eindrucksvoll auf Position, was beim Einsatz eines Krans auf See unerlässlich war. Eine gewaltige Welle rauschte an ihnen vorbei und brach sich am Riff. Hinten in der Lagune konnte er die weißen Baumwollsegel mehrerer Fischerpirogen erkennen, die alle auf die Küste zuhielten. «Besser so?», fragte er.
«Perfekt», sagte Lucia. «Sie wollten mich ins China des dreizehnten Jahrhunderts entführen.»
«In die Zeit der mongolischen Khans, ja», sagte Knox. «Dschingis Khan war ein Eroberer. Er überrannte Russland und China und stürzte die Europäer in apokalyptische Ängste. Im wahrsten Sinn des Wortes: Die Christen hatten gefürchtet, er und seine Horden brächten die Erfüllung der Endzeitprophezeiung von Gog und Magog. Aber seine Nachfolger waren von anderem Schlag, vor allem sein Enkel Kublai.»
«‹In Xanadu schuf Kublai Khan ein prunkvolles Vergnügungsschloss›», zitierte Lucia.
«Genau der ist es», stimmte Knox zu. «Er sah sich alsHerrscher und weniger als Heerführer, und China war das Juwel in seiner Krone. Er errichtete auf den Trümmern von Peking eine neue Hauptstadt und berief seine chinesischen Untertanen in Schlüsselpositionen, um sie für sich zu gewinnen. Aber so richtig klappte das nicht. Die Han und die Mongolen achteten einander nicht, jeder betrachtete den anderen als minderwertig. Es waren ohnehin schwere Zeiten. Der Schwarze Tod wütete in China beinahe genauso heftig wie in Europa, es gab gewaltige Überschwemmungen, Inflation, Armut und Hungersnöte. Die Han und andere ethnische Gruppen erhoben sich. Die ersten Aufstände wurden niedergeworfen, aber jeder neue schwächte die Macht der Mongolen weiter, bis das Reich schließlich im Jahr 1368 zusammenbrach. Einer der Rebellenführer, ein Han namens Zhu Yuanzhang, riss den Drachenthron an sich und erklärte sich zum ersten Kaiser der Großen Ming.»
«Womit, nehme ich an, die Ming-Dynastie gegründet war?»
«Richtig. Zhu Yuanzhang blieb ungefähr dreißig Jahre an der Macht, aber mit seiner Nachfolge gab es Probleme. Sein ältester Sohn, der Kronprinz, starb vor ihm, sodass er sich entscheiden musste, ob er den fähigsten seiner überlebenden Söhne – einen Mann namens Zhu Di – zum Thronerben ernennen wollte, oder nicht doch lieber seinen Enkel Zhu Jianwen. Er entschied sich für seinen Enkel.»
«Und Zhu Di hat getobt.»
«Es kommt darauf an, wem man glaubt», sagte Knox. «Wir wissen, dass Zhu Jianwen extreme Angst vor Rivalen hatte. Nach der Thronbesteigung untersagte er Zhu Di sogar, seinem toten Vater die letzte Ehre zu erweisen – eine schlimme Demütigung –, und nahm seinen Anhängern Rang und Ämter, womit er ihn faktisch zwang, entweder aufzugeben oder gegen ihn in den Kampf zu ziehen. Zhu Di entschied sich für den Kampf. Scharmützel mit den kaiserlichen Truppen weiteten sich zu einem kleineren Bürgerkrieg aus. 1402 marschierte Zhu Di auf Nanjing, Chinas neue Hauptstadt, und sein Neffe floh. Daraufhin erklärte er sich zum Kaiser Yongle, Kaiser der immerwährenden Freude.»
Lucia lächelte. «Er war offensichtlich nicht besorgt, falsche Erwartungen zu wecken.»
«Na ja, alles in allem hat er seine Sache nicht schlecht gemacht. Er löschte den Namen seines Neffen aus den Geschichtsbüchern und beseitigte seine Berater und Anhänger; das war nicht unüblich. Er schlug die Mongolen und die Vietnamesen zurück, führte erfolgreiche Landreformen ein, ließ den Großen Kanal ausbauen und verlegte seine Hauptstadt zurück nach Peking. Und er gab den Bau einer großen Flotte in Auftrag.»
«Ah, die berühmte Schatzflotte.»
«Ein beispielloses Unterfangen. Die Han waren Konfuzianer, in ihrer Wahrnehmung hatte einzig China Bedeutung. Wer mit China zu tun haben wollte, musste nach China kommen. Aber Zhu Di dachte anders. Er wollte Macht demonstrieren, vielleicht wollte er alle in der Region davor warnen, sich mit
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