Die Drachenflotte (German Edition)
–»
Lauter Jubel im Heck unterbrach ihn, und als er sich umdrehte, sah er den Anker den Wasserspiegel durchbrechen wie ein gewaltiger Wal, der zum Luftholen auftauchte. Das Wasser rann in Strömen an seinem Schaft herab, an dem Stahlkabel und den Hebegurten an beiden Enden, während er langsam höher stieg.
«Wow!» Lucia holte einen Fotoapparat aus ihrer Tasche.
«Wollen Sie näher ran?», fragte Knox. Als sie bejahte, führte er sie wieder nach unten, wo inzwischen alle weit zurückgetreten waren.
Kabel und Schlingen ächzten vernehmbar unter der Belastung, als der Kranarm sich zu drehen begann und den schwarzen, teilweise von Rost rötlich verfärbten Anker über das Deck schwenkte. Sobald er sich über den geöffneten Luken des Laderaums befand, hielt der Kranführer die Bewegung an und wartete einige Augenblicke, um den Anker zur Ruhe kommen zu lassen. Von allen Seiten traten Besatzungsmitglieder heran, um ihn mit ausgestreckten Armen am Schwingen zu hindern und dafür zu sorgen, dass er nicht gegen die Seiten schlug, als er in den Laderaum hinuntergelassen wurde, wo schon die Projektkonservatoren warteten.
«Das ist wirklich beeindruckend», sagte Lucia, die ein Foto nach dem anderen schoss. «Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass es so –» Sie fuhr heftig zusammen, als es hinter ihr plötzlich laut knallte. Es hörte sich an, als hätte es einen Kurzschluss gegeben. Alle drehten sich um. Das Schiff krängte ein wenig nach Backbord, und der Anker begann von neuem zu schwingen, wie ein gigantisches Pendel, das von einem himmlischen Finger angestoßen wurde. Knox warf Miles einen raschen Blick zu und sah in seinem Gesicht die gleiche Besorgnis, die auch ihn ergriffen hatte.
Eines der Strahlruder ihres dynamischen Positionier-Systems hatte den Geist aufgegeben. Und das bedeutete, dass sie ein echtes Problem hatten.
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Kapitel 3
I
Hauptsitz der Firma Kirkpatrick Films,
Covent Garden, London
R ebecca Kirkpatrick gab sich die größte Mühe, den Ausführungen Titch Osmonds, des Leiters ihrer Finanzabteilung, konzentriert zu folgen, aber mit Nicolas schnell hingekritzelter Notiz auf dem Schoß fiel es ihr schwer. Schon wieder sah sie verstohlen auf den Zettel.
Pierre Demullin (???) hat angerufen. Aus Madagaskar (!?!). Ruft später noch mal an.
All diese Ausrufe- und Fragezeichen machten sie kribbelig. Sie erhielt ständig Anrufe aus allen Teilen der Welt, und es war kein Geheimnis, dass ihre Mutter Madagassin gewesen war, das verriet schon ihr eigenes Aussehen, in dem sich polynesisches, afrikanisches und europäisches Erbe mischte. Was also an dieser Nachricht hatte all die Ausrufezeichen notwendig gemacht? Sie atmete mehrmals tief durch, um ruhig zu bleiben. So eine Sensation war ein Anruf von Pierre auch wieder nicht. In ihrer Kindheit war er ihr Nachbar gewesen und der beste Freund ihres Vaters; heute war er der Geliebte ihrer Schwester Emilia und der Vater von Emilias kleinem Sohn Michel. Allerdings hatte Rebecca ihn seit elf Jahren nicht mehr gesprochen, und sie konnte sich nicht recht vorstellen, was ihn veranlasst haben könnte, sie plötzlich anzurufen, praktisch aus heiterem Himmel.
«Du bist mit den Gedanken woanders», sagte Titch. «Wollen wir das später machen?»
Rebecca lächelte bemüht. Sie konnte ohnehin nichts tun, bevor Pierre zurückrief. «Nein, nein, ist schon gut», versicherte sie. «Wir waren gerade beim Cashflow der Firma.»
«Richtig.» Titch blätterte weiter in seinem Ordner. «Wir brauchen weitere siebenundsechzig, wenn wir über den Juli kommen wollen.»
«Siebenundsechzig?» Sie krauste die Nase. «Das ist alles?»
Er lachte verdrossen. «Siebenundsechzig sind kein Pappenstiel.»
«Können wir nicht etwas aufnehmen?» Wieder blickte sie zu dem Zettel auf ihrem Schoß hinunter. Es stimmte nicht ganz, dass sie sich nicht vorstellen konnte, warum Pierre sie anrufen sollte. Deshalb erschreckte die Nachricht sie ja so. Er wäre derjenige, der sich in einem Notfall bei ihr melden würde, wenn aus irgendeinem Grund weder Adam noch Emilia selbst telefonieren konnten.
«Ja, glaubst du denn, das habe ich nicht versucht?», fragte Titch in einem Ton, als hätte sie ihn persönlich beleidigt. «Kein Mensch leiht uns mehr was.»
«Warum nicht? Wir machen doch Gewinne.»
«Ja, auf dem Papier.» Er hob den Kopf und blickte ihr einen Moment in die Augen, bevor er, knallrot im Gesicht, hastig wieder wegschaute. Vor zwei Monaten hatte er bei einem
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