Die Drachenflotte (German Edition)
ihm anzulegen. Immerhin gab es Gerüchte, dass sein Neffe noch am Leben sei, da konnte er Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Thronanspruchs am allerwenigsten gebrauchen. Wie dem auch sei, er beauftragte einen Mann namens Zheng He, eine große Flotte zu bauen und alle Regionen rund um das Chinesische Meer zu erkunden, um diplomatische Beziehungen und Handelsverbindungen zu knüpfen, Unruhen in Chinas Territorien in Übersee zu unterdrücken und dergleichen mehr.»
«Zheng He. War das nicht der Eunuch?»
«Ja. Er war der Sohn einer muslimischen Familie, die bei den Mongolen in Diensten stand. Noch als Kind geriet er in Gefangenschaft und wurde als Dreizehnjähriger kastriert. Das war damals keine Seltenheit. Aber er schaffte den Aufstieg und eroberte sich einen Platz als einer von Zhu Dis Favoriten.» Als Lucia eine Augenbraue hochzog, lachte Knox. «Nicht in dem Sinn», erklärte er. «Zhu Di mochte Frauen, bevorzugt Koreanerinnen. Genau aus diesem Grund vertraute er den Eunuchen. Er konnte sicher sein, dass sie nicht in seinem Harem wildern würden und keine eigenen dynastischen Ambitionen verfolgten.»
«Okay. Der Herr der immerwährenden Freude schickte also seinen Lieblingseunuchen auf große Fahrt. Und es wurde eine ganze Reihe von Fahrten daraus, nicht?»
«Sieben insgesamt, die letzte fand allerdings erst viel später statt. Sie war eher so eine Art Nachtrag. Größtenteils entsprachen die Routen dem, was man erwarten würde: Sumatra, Java und andere Hauptinseln des indonesischen Archipels. Vietnam, Thailand, Sri Lanka, die Malaiische Halbinsel, Indien. Gegenden, die den Chinesen recht gut bekannt waren. Die vierte Reise führte bis nach Arabien und Ost-Afrika, aber die weitaus interessanteste ist die sechste. Zheng He selbst kam gar nicht so weit, aber jeder seiner Vizeadmirale führte seine eigene Armada, und wir können nicht mit absoluter Gewissheit sagen, in welche Regionen diese Verbände vorstießen. Vor allem auch deshalb nicht, weil kurz nach dem Auslaufen der Schiffe in Peking ein großer Brand ausbrach, was der Kaiser als göttliche Warnung vor weiteren Reisen der Schatzflotte auslegte. Er ließ deshalb alle Aufzeichnungen über diese Reise vernichten.»
«Und der Anker da unten müsste von dieser sechsten Reise stammen?»
«Höchstwahrscheinlich», stimmte Knox zu. «Allerdings waren die chinesischen Schiffe damals hoffnungslos überfordert, wenn es galt, gegen den Wind zu kreuzen; sie mussten im Grunde genommen fahren, wohin der Wind sie trieb. Meistens ging das gut, weil die Passatwinde zwischen Afrika und China sehr zuverlässig sind. Aber wenn ein Schiff der chinesischen Flotte tatsächlich im falschen Moment vom Wind abgedrängt worden wäre, hätte es beinahe zwangsläufig hier oben ankommen müssen. Und diese Flottenverbände waren riesig. Allein an der ersten Reise sollen dreihundertsiebzig Schiffe beteiligt gewesen sein, mit mehr als achtundzwanzigtausend Menschen an Bord. Selbst wenn wir eine gewisse Übertreibung berücksichtigen, ist das ziemlich beeindruckend. Der Bedarf an Holz war so gewaltig, dass in China ganze Wälder abgeholzt wurden. Die meisten Schiffe waren Versorgungsschiffe, Truppentransporter und dergleichen. Hinzu kamen große Frachtschiffe, denn diese Expeditionen waren ja auch Handelsreisen, bei denen chinesische Seidenstoffe und Porzellanprodukte gegen hochbegehrte Waren wie Perlen, Elfenbein und exotische Hölzer getauscht wurden. Doch zu jedem Kontingent gehörte auch eine Anzahl sogenannter Schatzschiffe. Das waren praktisch schwimmende Paläste; oder, genauer gesagt, eher Botschaften, eigens dazu gedacht, fremde Mächte zu beeindrucken und ihnen gehörigen Respekt einzuflößen. Sie sollen mehr als vierhundert Fuß lang und hundertachtzig Fuß breit gewesen sein. Sie müssen sich das ungefähr so vorstellen, als würde man mit einem ganzen Fußballstadion in See stechen. Das war mehr als neunzig Jahre vor Kolumbus, und diese Ungetüme waren doppelt so breit, wie die Santa Maria lang war. Sie hatten neun Masten, der höchste soll mehr als hundert Meter hoch gewesen sein.»
«Hundert Meter?» Lucia verzog skeptisch das Gesicht. «Ist das überhaupt möglich?»
«Nach Ansicht vieler Historiker und Schiffsbauer nicht. Ihrer Meinung nach waren die Schatzschiffe eher Sechsmaster und höchstens zweihundert Fuß lang.» Er lachte und wies mit einer Kopfbewegung aufs Meer. «Genau deshalb ist das hier so spannend. Gewissheit werden wir erst bekommen, wenn
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