Die Drachenjägerin 2 - Winter, M: Drachenjägerin 2
spürte einen Luftzug hinter der rechten Schulter und ließ sich sofort nach vorne fallen.
Der Boden erzitterte, als der Knüppel auf die Stelle niederfuhr, an der Nival eben noch gestanden hatte. Der alte Mann neben der Tür schrie vor Schmerz auf und ließ die Waffe fallen.
» In diesem Moment hättest du das Messer in der Brust, falls ich eins mitgebracht hätte«, sagte Nival. » Aber der Versuch war nicht schlecht. Ich habe nicht erwartet, dass einer von euch noch so gute Ohren hat.«
» Nival?« Der Alte riss die Augen auf. » Junge, bist du das?«
Nival nahm den Hut ab und lächelte. » Weilt der Mann dieses Namens nicht längst unter den Toten?«
» Braucht Ihr Hilfe, Herr Lireck?« Ein Mädchen war auf der steilen Treppe aufgetaucht, die ins obere Stockwerk führte. Sie war blond und hübsch, ähnelte aber in nichts sonst Chamija. Dieses Mädchen war alles andere als zart und lieblich. » Habt Ihr den Einbrecher geschnappt? Soll ich ihm eins über den Schädel ziehen, oder seid Ihr schon dabei, ihn zu fesseln?«
» Gar nichts habe ich«, brummte Lireck. » Den Hausherrn habe ich gefangen, sonst niemanden.«
» Guten Tag, Fräulein Agga«, grüßte Nival.
Agga stieg die Stufen hinunter und nahm ihn misstrauisch in Augenschein. » Ihr habt verschmierte Farbe im Gesicht, Herr Nival. Was ist das für ein verlotterter Anzug für einen Mann, der im Schloss arbeitet?«
» Im Hut sind Läuse«, ergänzte er und drückte ihr seine neue Errungenschaft in die Hände, wobei er ihre angewiderte Miene ignorierte. » Doch was beschwert Ihr Euch über mein Aussehen? Hier steht auch nicht alles zum Besten. In diesem Haus gibt es Ratten, wie ich sehe.«
» Ich tue, was ich kann«, verteidigte Agga sich und schob eine angenagte Brotkante mit dem Fuß unter den wurmstichigen Schrank im Flur. » Aber wenn man sich um drei faule alte Kerle kümmern muss, bleibt nicht viel Zeit zum Putzen.«
» Wie geht es Mora?«, fragte er und hörte auf zu lächeln.
» Besser«, sagte Lireck und klopfte Nival auf die Schulter. » Viel besser. Sie blüht auf und gedeiht, das macht nur unsere Gesellschaft und nicht etwa die zweifelhaften Heilkünste dieser … Person.«
» Na wartet«, schnaubte Agga. » Noch so eine Beleidigung, und Ihr seht mich nie wieder. – Kommt, Herr Nival. Überlassen wir diesen Sterbenden seiner Reue.«
Nival folgte ihr in die kleine Stube unter dem Treppenaufgang.
» Du kannnst nicht kündigen«, rief Lireck ihr nach. » Du steckst mit drin, mein liebes Fräulein!«
Agga seufzte, während sie einen Schemel an Moras Bett schob. » Ihr wisst, ich gebe mein Bestes.«
Sie hatte keine Wahl gehabt, aber unglücklich schien sie nicht zu sein. Als Nival das Haus nach dem Brand seines alten Heims gekauft und die Bewohner dafür ausgesucht hatte, war er sich anfangs nicht sicher gewesen, ob Agga die Richtige für diese Arbeit war. Immerhin hatte sie sich während der Zeit als Moras Dienstmädchen nicht gerade als zuverlässig erwiesen – dass sie das billigste Fleisch gekauft und in die eigene Tasche gewirtschaftet hatte, weckte berechtigte Zweifel an ihrer Loyalität. Ihre neue Stelle hatte sie höchstwahrscheinlich nur wegen ihrer schönen Augen bekommen. Aber sie trug ein dunkles Geheimnis mit sich herum, dem sie nicht entkommen konnte. Eines Abends hatte er ihr aufgelauert und sie daran erinnert, dass sie mit ihren verdorbenen Pasteten den König vergiftet hatte – dass es aus Nachlässigkeit geschehen war, würde Pivellius keineswegs nachsichtig stimmen –, und danach war sie gerne bereit gewesen, hier einzuziehen und sich um Mora zu kümmern.
Es hatte eine Weile gedauert, bis er herausgefunden hatte, wo die überlebenden Greise untergekommen waren. Bevor die Drachen in die Stadt gekommen waren, um Linnia zu töten, hatten fünf alte Männer, alles ehemalige Knappen, bei Bher und Mora gewohnt. Zwei von ihnen waren zusammen mit Bher ums Leben gekommen; was aus den anderen geworden war, wusste Nival nicht. Zuerst hatte er Borlin gefunden, der eine vage Ahnung hatte, wo Kasidov steckte, und dieser hatte, obwohl er kaum das Haus verließ, einmal zufällig Lireck getroffen. Als Letzter war also der muntere Weißbart, zusammen mit seiner neuen Affendrossel, hier eingezogen. Hatte er vorher wie neunzig ausgesehen, wirkte er jetzt wie ein Hundertjähriger. Doragos und Robans Abwesenheit fiel umso mehr auf, jetzt, da die anderen wieder zusammen waren. Bhers Fehlen schmerzte unablässig.
» Mein Junge«,
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