Die Drachenjägerin 3 - Winter, M: Drachenjägerin 3
fühlen und zu grübeln. Linn wusste genau, was ihr Lehrer Bher dazu gesagt hätte, und am nächsten Tag begann sie wieder zu trainieren. Sie besaß kein Schwert, aber sie kämpfte mit allem, was ihr in die Hände geriet – Dolche, lange Messer, sogar mit den Harpunen, die von den Seeleuten zum Fischfang benutzt wurden. Was ihre Gegner anging, war sie nicht wählerisch. Ein alter Lederbeutel, ein Ballen Stroh, das war genug. Umso dankbarer war sie, als Nival sich als Übungspartner anbot. Er war schnell wie ein Drache. Während ihre Beine noch darum kämpften, das Gleichgewicht auf dem schwankenden Deck zu halten, fand sie langsam wieder zu den vertrauten Bewegungen zurück, zu ihrer Schnelligkeit, zu dem Glück, das im Kämpfen lag.
Vielleicht hielt gar nicht Nivals Eingreifen in jener Nacht die Matrosen davon ab, sie zu belästigen, sondern die Schaukämpfe, die sie beide ihnen jeden Tag boten.
» Ghenai«, sagte Nival, während die dunklen Umrisse am Horizont wuchsen. » Dort. Siehst du es?«
Linn starrte zum Horizont, bis ihre Augen tränten. » Ein Schatten?«
» Die Insel Ghenai. Wir sind da, meine Liebe.« Wie leicht er sie so nannte, wie leicht seine Worte flossen. » Dort bin ich noch nie gewesen.«
» Das gibt es also auch, dass ein Land dir fremd ist? Dass du nicht alles weißt, dass du nicht überall zu Hause bist?« Sie schämte sich für ihren schroffen Tonfall, aber langsam hatte sie wirklich genug von ihm. Daran änderten auch seine geröteten Wangen nichts, die neue Bräune auf seiner Haut und wie der Wind in seinem Haar spielte … Auch sein Lächeln, was hätte es daran ändern können, dass sie ihn nie wiedersehen wollte und ihn am liebsten über Bord geworfen hätte?
» Ich bin nirgends zu Hause«, sagte er leise. So wie er sie ansah, wünschte sie sich brennend, sie hätte sich irgendwie hübsch machen können. Seine wehenden Haare sahen eigentlich immer gut aus, aber sie selbst fühlte sich nur zerzaust. Man war nicht schön, wenn man sich übel und elend fühlte, wenn einem der scharfe Wind die Tränen in die Augen trieb, wenn man am liebsten sterben wollte und auch so aussah. Ihr eigenes Elend hatte die Trauer um ihre Schwester überlagert und sich damit vermischt, sodass die vergangenen beiden Monde zu einer einzigen dunklen, albtraumhaften Zeit verschmolzen. Wenn sie nicht so viel trainiert hätte, wäre sie verrückt geworden, das wusste sie.
» Nein? Mir kam es so vor, als seist du für die Seefahrt geboren, im Gegensatz zu mir.«
» Um den Drachenfriedhof zu finden würde ich das Stille Meer kreuz und quer befahren.« Das Lächeln auf seinen Lippen blieb, und sie ertappte sich dabei, dass sie ihn wieder einmal zu lange anstarrte, also wandte sie sich der Insel zu, die sich immer deutlicher am Horizont abzeichnete.
» Die Insel der Magier«, sagte sie. » Ob das wohl stimmt? Können dort alle zaubern?«
» Die Seeleute behaupten es, aber wir wissen, dass man ihnen nicht zu viel Glauben schenken sollte. Doch ein Funke Wahrheit wird wohl dran sein. Die Ghenai zaubern, und sie betreiben Seefahrt. Wenn es irgendwo einen Zauberer gibt, der uns sagen kann, wo er Magie gespürt hat, dann dort.«
» Wir müssen ihn nur finden.«
» Das werden wir«, flüsterte er zuversichtlich. » Glaub mir, das werden wir.«
Sonst war die ganze Reise umsonst, dachte sie. Der Weg durch die Berge, wo sie von Dorf zu Dorf gewandert waren, hungrig und frierend, immer von der Angst getrieben, Ojia Ban könnte sie finden. Dann endlich die Küste. Die fürchterliche Seefahrt. Nur um in einem fremden Königreich zu stranden und zu erfahren, dass alles vergebens gewesen war? Das durfte nicht sein.
Nival blieb neben ihr an der Reling stehen, während sie sich der Insel näherten, die immer größer und felsiger aus dem Meer emporwuchs, gekrönt von einem gigantischen kegelförmigen Berg, der dunkle Rauchwolken ausstieß.
» Ein Vulkan«, sagte Nival. » So friedlich und verlässlich wie ein zahmer Drache.«
» Also gar nicht? Willst du mir Angst machen?«
Er lachte. » In vielen Ländern bin ich noch nicht gewesen. Im Magen eines Drachen. Im Schlund eines Seeungeheuers. Auf einer Insel, über die wilde Geschichten im Umlauf sind – zumindest in Lonar. Wen wundert es, die Ghenai waren lange Zeit ihre Herren und keinesfalls beliebt. Nein, Zauberer sind nicht immer freundliche alte Herren, die Blumen aus ihren Taschen wachsen lassen. Aber verrückter als Matrosen können sie eigentlich nicht sein.«
Ganz
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