Die Drachenperle (German Edition)
nun wieder die Führung übernahm. Es dauerte lange, aber dann veränderte sich die Landschaft. Sie stießen auf eine Lichtung im Wald, die von weißen Lilien geradezu überwuchert war.
Dieses Blumenmeer hatte etwas Magisches. Sein Duft kroch geradezu unter die Haut. Wie in Trance ging der Junge, der nun selber für sich nach Erlösung suchte, als wäre auch er selbst ein Frostwald, durch das Feld und streifte mit den Fingerspitzen über die Blüten. Er streichelte sie und dadurch brachten sie leise Töne hervor. Ihren Duft konnte Makoto auch hören, ja, tatsächlich. Er roch und hörte den Duft, es war ein heiterer Klang, ein heiterer Duft! Zärtlichkeit lag auch darin verborgen. Je mehr er lauschte, umso verlockender wurden die Lilien. Mit Macht kam seine allererste Erinnerung zurück: Ein intensiverDuft nach Blumen, doch gleichzeitig unaufdringlich und verheißungsvoll, mit einer silbrig-weißen Eleganz sein Bewusstsein anlockend. Genauso war es jetzt auch. Und er erinnerte sich auch an die Weissagung: „Heilung erfährt, wer den Duft erhört…“ Jetzt machte das Sinn!
Eine weiße Säule schimmernden Lichtes stieg nun aus der Mitte der Lilien auf. Sie waberte einige Sekunden lang und verdichtete sich schließlich zu einer weiblichen Gestalt. Eine Frau, auf dem Höhepunkt ihrer noch jugendlichen Kraft, stolz und schön, zierlich, mit seidigem, schwarzem Haar und grünen Augen erschien vor ihm. Sie lächelte ihn zärtlich an.
„Mein armer Liebling, er hat dir so weh getan. Aber seine Untat versetzt mich nun in die Lage, mit dir zu sprechen. Höre gut zu und glaube mir bitte. Jedes Wort kommt aus meinem tiefsten Herzen und meiner großen Liebe zu dir, mein Sohn“
„Mein Sohn? Du nennst mich deinen Sohn?“
„Ja, du bist mein Kind, mein Einziges. Man hat dich mir weggenommen und ich starb, bevor du dein erstes Jahr vollendet hattest. Darum kennst du mich nicht. Du hast mich vergessen. Die Götter haben mir nur wenige Minuten gewährt, um mit dir jetzt zu sprechen, also höre gut zu! Es ist von größter Wichtigkeit, dass du überlebst und in die reale Welt von Goro zurückfindest. Ein großes Schicksal erwartet dich und will erfüllt werden! Mein Sohn, du musst wissen, dass dein echter Körper verletzt wurde, du schwebst jetzt zwischen Leben und Tod. Dein Geist hat sich in diese magische Welt geflüchtet. Sie ist deine Schöpfung! Als kleines Kind, wenn dein Leben dir unerträglich wurde, hast du dich in Tagträumen hierher geflüchtet. Doch du schwebst nun hier und dort in größter Gefahr, denn dein Lebenswille erlahmt. Darum: finde den Tempel, finde die ganze Wahrheit über dich, triff deine Entscheidung, welche Wahrheit die wahre sein soll und gehe dann den Weg zurück. Bitte, gibt nicht auf! Du musst leben. Du bist der Letzte unserer Art. Du trägst mein Zeichen der Lilie und das deines Vaters, die Flamme, auf deiner Schulter. Nur sehr selten wird ein solch machtvolles Kind geboren, nur alle sieben Generationen ist dies möglich, und auch nur zur Zeit der größten Konjunktion am Sternenhimmel.“
Je länger sie sprach, umso blasser wurde die Erscheinung. Makoto ahnte, dass er seine Mutter gleich ein zweites Mal verlieren würde. Sein Schmerz war groß, seine Verzweiflung noch größer.
„Bitte, bleib doch!“
Doch der Lilienlichtgeist verblasste immer mehr und verschwand mit einem silberhellen Ton in das jenseitige, herrliche Reich der Ewigkeit. Makoto streckte seine Hände aus und wollte sie festhalten, aber es war zu spät. Nur noch der Duft der Lilien war auf der Lichtung wahrzunehmen. Und dann, ganz unerwartet, verwelkten alle Blumen auf einmal. Als hätten sie gleichzeitig ihre Lebenskraft dem Jungen gespendet, so erstarkte nun seine Tatkraft. Jetzt war nur noch eines von Bedeutung: ihren letzten Willen zu erfüllen. Mit großer Entschlossenheit griff er nach seinem Beutel, der die Perle der Weisheit barg, tastete auch nach der Feuerträne, um sich zu vergewissern, dass er sie noch in der Kleidung bei sich hatte und rief dann Mellon zu sich.
„Komm. Ich muss jetzt sofort zu diesem Tempel, koste es was es wolle.“
Der kleine Eselentendrache (oder war es eine Dracheneselente?) bewegte sich zielstrebig voran, überquerte die Lichtung, die nun unheimlich wirkte und führte Makoto durch das anschließende Waldstück. Das Unterholz war dicht, einen Weg gab es nicht. Er musste erst erschaffen werden. „Wen hatte sie nur gemeint, als sie sagte: er hat dir so wehgetan, man hat dich mir
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