Die Drachenperle (German Edition)
empfing ihn in ihrem vollen Ornat als Magierheilerin und Älteste des Hohen Rates und bot in ihrem hohen, kirschrot gefärbten Polsterlehnstuhl einen sagenhaften Anblick. Durch ein Oberlicht in der Decke des Raumes fiel das Licht der Mittagssonne ein, direkt über ihr, was den festlichen Eindruck noch verstärkte und auch so beabsichtigt war. Die bodenlange, seidene Robe war tiefschwarz und schimmerte dunkelblau. Der Stehkragen, die weiten Ärmel und der Saum waren überreich bestickt mit vielgestaltigen gold- und silberfarbenen Ornamenten. Ein Goldreif schmückte ihre Stirn, in dessen Mitte ein blauer Saphir prangte. Taiki war schwer beeindruckt und sogar etwas eingeschüchtert.
„Du hast mich erwar tet, Urgroßmutter. Da bin ich.“
„Weißt du, wer du bist?“ Mareika legte eine kleine, dramatische Kunstpause ein. „Du bist die Zukunft . Du bist der Garant für eine weiterhin glorreiche Arbeit der Magierheilerzunft. Deine Vergangenheit als elender Sklave wird ausgelöscht sein, wenn du heute Abend diesen Raum wieder verlässt. Deine Mutter Aurelia hat dir mit ihrem sicheren Gespür den passenden Namen verliehen, denn Taiki bedeutet in der alten Sprache großer Glanz, großes Leuchten . Ich sehe in dir wertvolle Fähigkeiten schlummern, die erweckt werden wollen. Zunächst aber entblöße deine Schultern und trete näher.“
Zögerlich kam Taiki dieser unerwarteten Aufforderung nach. Etwas daran lockte eine Erinnerung aus der Tiefe. Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Wer war das doch gleich gewesen, der unbedingt seine linke Schulter inspizieren wollte? Ach ja, Darorah!
Wer war Darorah?
Taiki schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich lieber auf seine Urgroßmutter, die ihm noch nicht sehr vertraut war, und jetzt eher wie ein magisches Wesen aus der fernen Zeit der Altvorderen erschien. Er legte seine Leinenjacke ab und ging zu ihr.
„Dreh dich um und knie nieder, damit ich besser sehen kann!“
Mit ihren knochigen Fingern fuhr sie tastend über seine vernarbte Haut. Mareika entdeckte, was sie zu finden gehofft hatte: das Zeichen der Lilie. Keine Tätowierung, wie Geistheiler sie für gewöhnlich trugen , um ihre Blutlinienzugehörigkeit zu demonstrieren, nein. Ein Muttermal! Ein Zeichen von Geburt an. Ausgezeichnet! Doch was war das da? Neben der Lilie entdeckte sie etwas, das wie zwei kleine Flammen aussah, aber das waren wohl nur zufällige Narbengebilde. Niemand trug zwei Zeichen von Geburt an auf seiner Haut. Nein, ihre alten Augen hatten sie getäuscht.
„Es ist gut. Du kannst dich wieder anziehen. Die Beutereiter haben dir das angetan, nicht wahr? Mögen sie gemeinsam mit den Dämonen der Schwefelhölle verderben! Nimm dir einen Stuhl und setz dich zu mir. Ich werde dich jetzt über die Gebräuche und Aufgaben der Heilerzün fte des Bergvolkes unterrichten. “
Taiki zog sich einen Stuhl heran und fragte: „Was hattest du auf meinem Rücken zu finden gehofft?“
„Das Zeichen der Lilie, das dich als uns zugehörig ausweist. Es ist bemerkenswert, du trägst es schon immer an dir, hast keine Tätowierung, auch keine Fälschung , wie ich befürchtet hatte. Nun höre mir gut zu! Du hast viel nachzuholen, musst viel lernen, bevor du in den Stand des Meisterschülers erhoben werden kannst. Ein unglückseliges Schicksal hat es gewollt, dass du fern deiner Heimat und fern deiner Familie groß geworden bist. Wertvolle Jahre gingen verloren. Und ich, deine Urgroßmutter, werde mich bald in die Welt der Ewigen zurückziehen. Ich bin die Einzige, die dir jetzt helfen und dich erwecken kann. Lydia ist hier nutzlos, obwohl sie meine Tochter ist. Von jeher ist diese Stadt in den Bergen bekannt für ihre Heiler, weit über die Landesgrenzen hinaus. Ein großer Teil des materiellen Wohlstandes dieser Gegend beruht auf der Kunst und Arbeit der Heiler. Es gibt die geborenen Geistheiler - dazu gehört unsere Familie - und es gibt die angelernten Heiler. Bis zu einem gewissen Grad können alle klugen Menschen mit einem Mindestmaß an Bildung das Wissen um Gesundheit und Krankheit im Studium erwerben und dann in die Praxis umsetzen. Dazu gehören vor allem die Apotheker, die Kräuterkundigen und die Hebammen. Was wir Geistheiler tun, unterscheidet sich davon wie das kalte Licht des Mondes von den heißen Strahlen der Sonne, oder wie die behäbige Ente vom furchtlosen Adler.
Dann gibt es noch die Messerheiler, die ihr blutiges Werk ausüben. Sie arbeiten mit Skalpell und Säge, flicken zusammen oder
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