Die Drachenperle (German Edition)

schneiden ab, was durch Unfall oder Gewalt zerstört wurde. In meinen Augen sind sie nicht mehr als Handwerker. Allerdings muss ich zugeben, dass sie auf eine gewisse Weise nützlich sind, vor allem für das niedere Volk. Wir Geistheiler können zwar vieles heilen, aber nicht alles. Wir vollbringen Großes, aber keine Wunder. Die Messerheiler, die in Opposition zu den Geistheilern im großen Gefüge der Heilkunst stehen, haben ebenfalls sowohl angelernte als auch geborene Heiler unter sich. Auch sie haben eine spezielle Begabung, die sie in ihrer Familie vererben. Genau wie wir. Das Mädchen Sina ist derzeit deren Hoffnung, uns unsere Führungsposition wegzunehmen. Sie tun alles, damit diese dumme Gans die neue Meisterschülerin wird und strecken ihre gierigen Finger nach der Leitung unserer Tempelschule aus! Das musst du dir mal vorstellen! Welche Anmaßung!“
    Mareika schaute an dieser Stelle so grimmig drein, dass Taiki fast gelacht hätte, denn sie hatte dadurch große Ähnlichkeit mit einem der Wasserspeier, die er an der Stadtkirche gesehen hatte.
    „Zurück zu uns Geistheilern. Eine Gabe, eine der größten sogar, ist, das Korn willentlich keimen zu lassen. So wie du es schon getan hast! Taiki, ist dir klar, wie außergewöhnlich das ist, dass du diese Fähigkeit spontan entwickelt und eingesetzt hast? Deine begabten Vorfahren, mich eingeschlossen, mussten lange üben und viele Exerzitien absolvieren, ehe wir überhaupt nur eine Sprosse zustande brachten. Und du Kind , entschuldige bitte, du junger, junger Mann – du lässt sogar die ersten Blätter wachsen! Das hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben. Und so ist es nur natürlich, dass d u ein Lilien mal von Geburt an auf deiner Schulte r trägst. Wir anderen Geistheiler tragen Tätowierungen als Zeichen der Zugehörigkeit, du aber hast es schon immer in deiner Haut gehabt.“
    Ihre Stimme war zittrig geworden. Mareika nahm tief bewegt sein Gesicht in ihre Hände und schaute ihn lange an, als sei er ein kostbares Juwel.
    Taiki hörte ihr gespannt zu. Das also war sein großes Schicksal, der Grund für den unhörbaren, aber so mächtigen Ruf, der ihn hierhergebracht hatte!
    „Welche Fähigkeiten noch haben die Geistheiler? Erzähl mir mehr über eure Möglichkeiten, den Kranken und Leidenden zu helfen.“ Taiki lächelte. „Nein, nicht eure Möglichkeiten. Unsere! “
    „Da gibt es noch einiges mehr, mein Junge.“ Mareika hatte sein Gesicht wieder losgelassen, hielt aber nun seine Hände, als hätte sie Angst, er könne ihr verloren gehen. „Wir Geistheiler sind auch Seelenärzte. Wir lindern Kummer, Angst, tilgen Irrsinn aus. Allerdings muss ich zugeben, dass uns auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten gewisse Grenzen gesetzt sind. Eine weitere Möglichkeit ist, bei Ratsuchenden einen Traumschlaf herbeizuführen, um dann die Träume zu deuten. Oft liegt die Antwort im Menschen selber. Du musst wissen, die Psyche eines Menschen spricht in Bildern. Wir helfen, sie zu verstehen. Bei Bedarf führen wir die Menschen innerhalb ihres Traumschlafes, verbinden unseren Geist mit dem ihren - lassen sie ihre Alpträume wiederholen und zeigen ihnen Wege, ihre Ängste zu erkennen und aufzulösen, sie zu wandeln in innere Stärke und Erkenntnis. Ein Geistheiler vermag vor allem die eigenen, inneren Heilkräfte des Patienten zu stärken und zu harmonisieren, so dass er von selbst gesunden kann. Und, aber das ist ein Geheimnis, es sind die stärksten und geschicktesten unter uns auch in der Lage, einem anderen Menschen mittels Gedankenmacht den eigenen Willen aufzuzwingen. Wenn wir wollen, sind andere für uns Marionetten. Dafür brauchen wir aber Sichtkontakt. Auch diese Kunst werde ich dich lehren! Du bist mein Erbe, mein heißersehnter Erbe. Seit du hier bist, hat mein Leben wieder Sinn.“
    Taiki fühlte einen großen Widerwillen, als sie über die Willensbeeinflussung sprach. „Urgroßmutter, bei allem Respekt. Ich will anderen nicht meinen Willen aufzwingen und sie zu Sklaven meiner Macht machen. Unter keinen Umständen werde ich jemandem seine Freiheit nehmen! Hast du so schnell vergessen wer ich war, bevor ich in dein Haus kam? Dass ich mein Leben lang ein Sklave war? Unterdrückt. Gepeinigt. Gedemütigt.“
    Mit jedem Wort wurde Taiki lauter. Er sprang erregt auf und nahm Abstand von ihr. Mareika merkte, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte. Sie musste einlenken.
    „Entschuldige bitte. Ich vergaß tatsächlich. Für mich bist du die große