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Die Drachenperle (German Edition)

Die Drachenperle (German Edition)

Titel: Die Drachenperle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Lüer
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kommen. Sein Gehör war, bedingt durch seine mehrjährige Blindheit, außerordentlich fein. Er hörte nicht nur Taikis zögerliche Schritte im Gras, sondern nahm auch seinen Atemrhythmus wahr, der ein gewisses Maß an innerer Unruhe verriet.
    „Bitte, nimm Platz.“
    Der Blinde Seher deutete auf die kleine Holzbank, die vor ihm stand. Er legte den Korb, den er gerade flocht, beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen Gast.
    „Aidan hat mir erzählt, dass du seit Wochen schlecht schläfst. Und dass du dir viel zu viel Arbeit zumutest. Er ist in Sorge um dich.“
    Taiki musterte Josayah. Er hatte ihn sich wesentlich älter vorgestellt!
    „Und du bist der Anführer der Ordensbrüder?“ zweifelte Taiki.
    Josayah fing an, schallend zu lachen, als hätte Taiki den größten Witz aller Zeiten gemacht. Auch der bucklige Frido, der ein Stückchen weiter weg auf den unteren Stufen des alten Tempels kauerte und die Ruten fürs Korbflechten vorbereitete, grinste breit und lachte glucksend in sich hinein.
    „Was gibt es denn da zu lachen“ brauste Taiki auf. „Aidan sprach mit größtem Respekt von dir.“
    „Entschuldige, aber das war unfreiwillig komisch! Du kannst nichts dafür, weil du noch nicht lange hier bist. Was hat Aidan dir denn über mich gesagt? Es ist so: ich bin mitnichten der oberste Ordensbruder, ich bin hier der Mitbewohner mit dem größten Gebrechen in Sonnenbühlheim, was von den umliegenden Dörfern nicht ohne Grund insgeheim „Siechenheim“ genannt wird. Weißt du, als ich herkam – übrigens war es Aidan, der mich gefunden hat – war ich dem Wahnsinn fast verfallen. Halb verhungert, ungewaschen und verlaust. Verstoßen von der eigenen Familie… Ich bin nicht einfach nur blind – ich habe eine ganz spezielle Art der Wahrnehmung entwickelt, die mich allerdings fast umgebracht hat. Ich konnte die Anwesenheit anderer Menschen nicht mehr ertragen. Aidans endloser Geduld und seinem feinen Gespür und seiner exzellenten Beobachtungsgabe habe ich es zu verdanken, dass ich doch noch „Mensch geblieben“ bin und sogar ein nützliches Mitglied dieser Gemeinschaft wurde. Aber meine Geschichte kann ich dir ein andermal erzählen. Heute geht es um dich, Taiki. Aidan hat mich gebeten, mit dir zu reden und dich „zu sehen“.“
    „Was meinst du damit… mich sehen ?“
    „Ich werde der Blinde Seher genannt. Blind sind meine Körperaugen. Aber überaus sehend sind meine geistigen Augen. Vielleicht ist das für dich schwer zu verstehen, aber ich bitte dich, mir jetzt zu vertrauen und zu glauben, was ich dir sage. Ich habe eine seltene und seltsame Gabe. Ich kann das innere geistige Wesen eines Menschen sehen und mit ihm auch geistig in Kontakt treten. Ich nenne es „Seelenschau“. Wir Menschen leben gleichzeitig in mindestens zwei Welten. In der körperlichen Welt, aber auch in einer Welt des Geistes, reines Bewusstsein in Ebenen unterschiedlichster Art. Es ist kaum möglich, dies mit Worten zu beschreiben. Man muss es erlebt haben, um zu verstehen. Es ist Realität, genau wie die Bank auf der du sitzt, oder wie der Korb, den ich heute flechte. Und in diesen geistigen Welten findet sich oft der Schlüssel zu den Problemen in der körperlichen Welt.“
    „Meinst du die Welt der Träume?“
    „Die auch. Aber nicht nur. Die Traumebenen sind nur ein Teil der geistigen Welt. Ich habe ihre Grenzen noch lange nicht erkundet. Vermutlich hat sie nicht mal Grenzen, diese Welt, sondern ist unendlich. Nur wir Menschen selbst sind begrenzt, unterliegen Beschränkungen.“
    „Ich habe auch eine Gabe, Josayah. Nur weiß ich nicht mehr, ob sie ein Segen ist, oder eher ein Fluch.“
    „Magst du mir davon erzählen?“
    Taiki schüttelte den Kopf. Dann fiel ihm ein, dass sein Gegenüber diese Geste ja gar nicht sehen konnte und sagte: „Nein, ich glaube nicht.“
    „Darf ich dich denn ansehen ?“
    „ Gesehen wurde ich längst, ich bin mit einem Makel behaftet, das haben sie mir gesagt. Insofern passe ich doch gut nach Siechenheim.“
    Die Bitterkeit in der Stimme alarmierte Josayah. Er durfte bei Taiki nicht locker lassen. Geduld würde er mit ihm haben müssen. Und Nähe musste geschaffen werden, Vertrauen. „Nun, wenn du nicht möchtest, dann ist das zu respektieren. Ich werde meine inneren Augen verschlossen halten in deiner Gegenwart. Aber ich möchte dich um die Erlaubnis bitten, dich einmal kurz sehen zu dürfen, ohne in dich einzudringen, damit ich mir ein Bild von deiner Gestalt machen kann.

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