Die Drachenperle (German Edition)
groben Pferden. Und wir waren doch so hungrig! Besonders ich, weil ich kein Fleisch essen kann. Die Gemüsepflanzen hatte ich nach dem späten Frost, der alles auf dem Feld zerstört hatte, in meinen Händen zum Wachsen gebracht. Darum war ich so wütend geworden.“
„Halt, das will ich jetzt genauer hören, mein Sohn. Du hast mit deinen Händen was gemacht? “
„Ich habe, ohne es eigentlich zu wollen, das Saatgut zum Keimen gebracht. Und es wuchs, bis es erste Blättchen hatte. In meinen Händen. Sie können leuchten! Arik konnte das auch sehen. Und ich kann auch noch ganz andere Sachen mit meinen Händen machen. Ich kann Menschen heilen. Nicht immer, manchmal kann ich nur lindern. Aber ich bin tatsächlich ein geborener Geistheiler. Ich trage ein Zeichen. So wie du, aber nicht tätowiert, sondern von Geburt an.“ Taiki löste seine Hände aus Aidans festem Griff, erhob sich, zog sein Hemd über den Kopf und drehte ihm den Rücken zu. „Siehst du? Ich trage das Zeichen der Lilie und auch das der Flammen. Ich vereine beide Linien in mir.“
„Oh nein, Junge, wer hat dir das angetan?“ Aidan sprang entsetzt auf und umrundete den Tisch. Er fuhr mit der Hand über Taikis völlig vernarbten Rücken. Innerlich brannten seine Gefühle wie Feuer in ihm. Diese Misshandlung! Das schrie nach Rache.
„Die Beutereiter gehen mit ihren Sklaven nicht gerade zimperlich um, Vater. Sie haben uns alle ausgepeitscht, nach Lust und Laune. Manchmal auch die Frauen. Selbst Nona hat ihre Bekanntschaft mit der Peitsche gemacht.“
„Nona?“
„Das Küchenmädchen, Malis Helferin. Sie war meine beste Freundin.“
„Und wer ist Arik?“
„Der älteste der Sklaven, unser Aufseher. Aber für mich war er eher eine Art Vater. Er hat mich schreiben und lesen gelehrt. Und ein wenig rechnen kann ich auch.“
Aidan konnte sich nur schwer vom Anblick des vernarbten Rückens lösen, doch das Zeichen der Feuerlilie zog letztlich seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Wie war das nur möglich, dass der Junge zwei Zeichen von Geburt an trug? Und auch noch an der richtigen Stelle? Aidan erinnerte sich schwach an Gerüchte von einem Heiler, der einer alten Prophezeiung nach erscheinen sollte, und zwar in Zeiten düsterer Verkommenheit. Stand es denn so schlecht um die Gilden?
Taiki zog sein Hemd wieder an.
Schweigen erfüllte nun die kleine Hütte. Taikis Erzählung lastete schwer auf seinem Vater. Nachdenklich griff Aidan zum kleinen Weidenkorb, der mit einem Stück grob gewebtem Leinen abgedeckt war, und stelle ihn auf den Tisch, holte zwei Tonbecher und goss Quellwasser hinein.
„Komm, Junge, setz dich. Wir wollen etwas essen. Der Tag war lang und beschwerlich.“
Einträchtig aßen sie das Fladenbrot, welches gefüllt war mit zerdrücktem Schafskäse, wildem Oregano und zerbröselten Walnüssen vom Vorjahr. Aidan musste an den Morgen denken, an dem er Taiki am Waldrand gefunden hatte. Die Götter mussten gnädig gestimmt sein, dass sie ihn zu seinem Sohn geführt hatten. Aurelia, ach Aurelia! Wir haben ein Kind! Wie schade, dass er nicht bei uns aufwachsen konnte. Aber nun hole ich alles nach, ich verspreche es dir. Aidan schickte mit Inbrunst seine Gedanken ins herrliche Reich der Ewigkeit zu seiner Frau.
„Vater?“
„Ja?“
„Warum bist du aus Neusalzhausen weggegangen?“
„Ich war so wütend auf meine Gilde. Sie waren gegen eine Heirat mit Aurelia, weil sie zur Geistheilersippe gehörte. Keine Mischehen! Ehernes Gesetz der Gilden. Darum hielten wir die Schwangerschaft geheim. Wir beschlossen, zusammen fortzugehen und eine neue Heimat für uns und unser Kind zu suchen. Und als dann Aurelia verschwunden war, und es stand fest, dass sie nicht wiederkommen würde, gab es nichts mehr, was mich dort hielt. Ich wollte frei sein und ging auf Wanderschaft. Ich bin jahrelang durchs Land gezogen und überquerte sogar das Meer. Wollte ein neues Leben beginnen und die Trauer hinter mir lassen. Dann bin ich auf den Orden der Barmherzigen Brüder gestoßen. Sie waren so ganz anders als die Gilden Neusalzhausens. Ich war ihnen willkommen und ich lernte ihre Philosophie kennen: Helfen ohne Ansehen der Person. Diener der Schöpfung sein. Für sich selbst nicht mehr verlangen, nicht mehr erwarten, als das Nötigste für den eigenen Lebensunterhalt: Obdach, Nahrung, Kleidung. Selbstbestimmung und freie Meinungsäußerung sind wichtige Pfeiler der Ordensgemeinschaft. Als ich reif genug war, eine Niederlassung zu gründen, schickten sie
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