Die Drei Federn - Joshuas Reise (German Edition)
das die Grenzen von Raum und Zeit übersteigt. Etwas, das so alt war, dass er es nicht fassen konnte, sondern nur ein winziges Stück der Macht fühlte, die es einst besessen hatte.
Auf der anderen Seite des Kraters standen Überreste einer großen, rechteckigen Steinplatte. Als sie näher kamen, sahen sie eingravierte Zeichen und Symbole. Der größte Teil der Steinplatte fehlte, er war wahrscheinlich der Zeit zum Opfer gefallen. Die Platte ruhte auf einem gewaltigen Block schwarzen Steins, aus dem auch der Pfad gewesen war, auf dem sie gelaufen waren. Die symmetrischen Grundmauern des Gebäudes hatten die Form einer großen Kathedrale. Es musste ein religiöser Ort gewesen sein. Die dem Krater zugewandte Seite war offen. Als sie sich umblickten, sah Joshua, dass all den Fundamenten und Ruinen, die den Krater umgaben, die ihm zugewandte Seite fehlte.
„Was nun?“, fragte er.
„Nun warten wir“, antwortete Grau.
Während sie schweigend ausharrten, konnte Joshua sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie gerade Zeuge von etwas wurden, das viel größer war als sie selbst. Er wusste zwar noch nicht, wie die einzelnen Teile miteinander und mit einem großen Ganzen verbunden waren, doch in seinem tiefsten Inneren spürte er, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde und dass er und Grau irgendwie eingeweiht waren, wenn nicht sogar ein Teil davon. Die Stille des Waldes und die stumme Verständigung zwischen ihm und dem Wolf verliehen Joshua ein Gefühl des Friedens, das er selten gefühlt hatte – und wenn, dann nur für die Dauer eines Moments. Das hier war anders. Es war, als ob der Frieden sich in ihm ausbreitete wie Flügel, die ihn trugen und ihm erlaubten, sich schwerelos zu fühlen und im selben Moment tief verbunden mit der Erde. Tatsächlich gab es in diesem Augenblick keinen Unterschied zwischen ihm und dem Boden, auf dem er ruhte, oder zwischen ihm und dem Wolf, der nur einige Meter von ihm entfernt lag.
Joshua wusste nicht, wie lange sie so dasaßen, aber irgendwann erhob sich Grau und starrte über den Krater hinweg in den Wald hinein.
„Ich kann es sehen“, dachte er zu Joshua.
Beide sahen zu, wie das flüssige Glas langsam auf den Krater zufloss. Als es angekommen war, strömte das Glas in die Kanäle zu beiden Seiten des Kraters und auf Joshua und den Wolf zu. Schließlich schloss sich der Kreis. Zunächst passierte nichts. Joshua blickte in den Krater hinein. Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf: Etwas würde aus der Tiefe aufsteigen, etwas Grauenvolles und Alptraumhaftes, das an die Oberfläche kommen würde, um sie mit hinunterzunehmen. Doch nichts passierte, außer dass Joshua das seltsame Gefühl hatte, dass die Luft leise zu summen begann – Joshua spürte die tiefe Vibration in seinem Körper.
„Spürst du das?“, fragte er den Wolf.
Es kam keine Antwort und zuerst konnte Joshua Grau nirgends entdecken. Dann sah er ihn vor der zerbrochenen Steinplatte stehen. Vor ihren Augen begann der fehlende Teil der Platte, sich wieder aufzubauen. Jedoch bestand er nicht aus Stein – sondern aus Licht. Dasselbe geschah mit den Mauern des Gebäudes, in dem sie standen. Als sie sich umblickten, sahen sie, wie sich die Wände von Grund auf neu aufbauten. Doch wo das Material aus Stein und Holz bestanden hatte, war es nun Licht. Es nahm die Form eines jeden Steins an und jedes Holzstück, jedes fein gearbeitete Detail der Struktur strahlte einen goldenen Glanz aus.
Joshua und Grau sahen zu, wie die ganze Stadt begann, sich wieder aufzubauen. Türen, Fensterbänke, Dächer, sogar Schornsteine und Wege entstanden aus Luft und dichtem Licht. Einige Gebäude waren flach und rechteckig, doch die meisten hatten seltsame Formen, halbrund oder kreisförmig. Joshua hatte noch niemals etwas Derartiges gesehen. Auf manchen Dächern befanden sich runde Plattformen, deren Zweck er nicht verstand.
„Joshua.“ Er empfing Graus Gedanken, der kaum mehr als ein Wispern war. Der Wolf wollte das, was geschah, nicht stören.
Joshua wandte sich um und betrachtete den Krater. Die Wände gaben nun einen leichten Glanz ab, und als sie sich dem Rand näherten, konnte Joshua weit hinuntersehen. Das Licht wurde heller und heller. Joshua und Grau, winzig vor dem großen Krater und nur Silhouetten vor seinem intensiven Licht, wichen vor dem blendenden Strahl zurück, der weit hinauf in den grauen Morgenhimmel reichte. Immer noch waren sie nicht in der Lage, irgendetwas von dem zu begreifen, was sie sahen. Ihre
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