Die drei Frauen von Westport
böse an, woraufhin Miranda sofort in Stillschweigen verfiel. NurVerrückte trugen im AugustWollschals, und mitVerrückten sollte man sich besser nicht anlegen.
Lesungen.Wenn es am Kollaps ihrer Karriere etwas Positives zu vermerken gab, dann war es dieTatsache, dass Miranda nicht mehr verpflichtet war, an Lesungen teilzunehmen. Dennoch saß sie nun hier und tat so, als höre sie zu, verlor sich aber in ihren eigenen Gedanken, wiegte den Kopf hin und her, um ihren schmerzenden Nacken zu dehnen. Dennoch, diese Lesung war etwas anderes. Miranda saß ja nicht für einen der »Schrecklichen Schriftsteller« hier, sondern für ihre Schwester.
Frederick blätterte eine Seite um. Er trug eine Khakihose und ein gestärktes blaues Oxford-Hemd mit abgetragenem Kragen, dazu ausgeblichene blaue Segelschuhe. Seine Stimme wiegte vor und zurück, eineWortwiege, in Baumwipfeln. Miranda konzentrierte sich einen Augenblick auf das, was die Wiege enthielt. IrgendetwasTrostloses und Gewalttätiges. Ein albtraumhaftesWesen, eine Art R osemarys Baby der Prosa, sanft gewiegt von der wohl klingenden Stimme des Schriftstellers. Miranda ließ die Bedeutung derWorte vorübertreiben, hörte nur den beruhigenden Klang, die angenehme Stimme des Mannes mit den seelenvollen Augen.
»So kluge, seelenvolle Augen«, sagte sie nach der Lesung zu Annie.
Annie lächelte und blickte zu Frederick hinüber, der an einem langen Tisch saß und Bücher signierte. »Er war wunderbar.«
Bevor sie Frederick kennen lernte, hatte sie gewisse Zweifel an ihm gehabt. Seine Bücher wurden von vielen Leuten sehr geschätzt, aber Annie mochte sie nicht, da sie von jenen Eigenschaften geprägt waren, die sie sowohl bei den jüdischen Autoren seiner Generation (Großspurigkeit als Neurose getarnt) als auch bei den WASPs (seelische Kälte als Bescheidenheit getarnt) nicht leiden konnte. Doch Frederick hatte sie überrascht, denn er war gar nicht so wie seine R omane. Vielmehr schien er ihr eine höchst seltene und von ihr höchst geschätzte Kombination aus Eigenschaften zu verkörpern: Er war sowohl wahrhaft neurotisch als auch wahrhaft bescheiden.
»Ich würde mich freuen, Frederick Barrow öfter zu sehen«, bemerkte Betty.
»Vielleicht, wenn sein nächstes Buch erscheint«, sagte Annie. »Für die nächste Lesung will ich versuchen, Alice Munro zu gewinnen.«
»Ach, Annie, sei doch nicht albern.«
»Ich weiß, sie wird vermutlich absagen.«
»Ach, Annie«, wiederholte Betty und schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich.«
»Du solltest nicht so schüchtern sein«, fügte Miranda hinzu. »Schüchternheit bei erwachsenen Frauen kann ich nicht ausstehen.«
»Und bei jungen Mädchen ist das dann okay, oder wie?«, versetzte Annie, bevor sie glücklicherweise von Freiwilligen abgelenkt wurde, die fürs Zusammenklappen der Stühle zuständig waren.
Als Annie zu Frederick hinüberblickte, sah sie, dass er von jungen Frauen und Männern mittleren Alters umgeben war. Eine interessante Kombination. Wie passte sie wohl zu dieser Gruppe?
Nachdem sich die Menge zerstreut hatte, blieb Frederick an dem Tisch, wobei er jetzt nicht mehr dahinter, sondern auf der Ecke saß, und unterhielt sich mit einer asketisch wirkenden Frau mit riesigen hellblauen Augen, die Anfang dreißig sein mochte, und einem etwas jüngeren Mann, der lässig, aber teuer gekleidet war. Alles, was er trug, sah weich, lässig und angenehm aus: der leichte Baumwollpulli – oder war er aus Seide? – ebenso wie die schmal geschnittene Hose. Sogar die butterweichen Ferragamo-Slipper. Wie derVerrückte aus dem Publikum trug er einen Schal, allerdings nicht ausWolle, sondern aus weißem Baumwollbatist.
Ich passe gar nicht dazu, so sieht’s aus, dachte Annie und beantwortete sich damit die Frage selbst.
Frederick entdeckte sie und winkte sie zu sich.
»Das sind Gwen und Evan«, sagte er und lächelte die beiden jungen Leute an. »Meine Kinder.«
Annie bemühte sich, die beiden nicht allzu neugierig anzustarren. Sie hatte schon so viel von den beiden gehört. Gwen war in irgendeinem Beratungsjob tätig, den sie von zuhause aus machte. Ihr Mann war Anwalt oder Arzt oder Banker; Annie erinnerte sich nur noch daran, dass er »anständig verdiente«, wie ihre Großmutter gesagt hätte. Gwen hatte zwei kleine Kinder, Zwillingsmädchen, die Geigenunterricht hatten und auf winzigen Geigen spielten und in winzigen Uniformen Fußball spielten. Evan hatte gerade seinen Job bei einer PR-Agentur aufgegeben und
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