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Die drei Frauen von Westport

Titel: Die drei Frauen von Westport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathleen Schine
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all die Kinder, die barfuß diesen Weg entlanggerannt sind! Die Pendler mit Filzhüten auf dem Kopf, müde und erschöpft von der langen Zugfahrt! Die beiden waren außer sich vor Begeisterung.
    »Das ist wie Zelten!«, rief Miranda.
    »Pfadfinderlager!«, ergänzte Betty verzückt.
    Annie wusste natürlich genau, dass Betty die Nase voll haben würde vom Pfadfinderlager, sobald sie ein heißes Bad nehmen wollte und feststellen musste, dass es nur eine Dusche mit kaltemWasser gab. Und dass Miranda an der Urigkeit des Häuschens nur so lange Gefallen finden würde, bis sie die erste heiße Nacht ohne Aircondition dort zugebracht hatte. Aber Annie hielt den Mund. Sie war nicht so dumm, ihrer Mutter und ihrer Schwester zu widersprechen, wenn sie sich in eine poetische Stimmung hineinsteigerten. Das wäre etwa so, als werfe man sich zwischen Kampfhunde. Man musste sich still in Geduld fassen, bis die beiden sich abreagiert hatten.
    Annie dachte manchmal, dass all diese armenVerleger, die sich von Miranda ausgetrickst oder unter Druck gesetzt fühlten, das wahre Geheimnis ihrer Schwester nie begriffen hatten – extreme Unschuld. Sie war eine attraktive Frau mit einem beseelten Gesicht; ihre mandelförmigen Augen verhießen weibliche Mysterien, und ihr träges, leicht schiefes Lächeln gab ihrem Gegenüber das Gefühl, insgeheim über alle Maßen gelobt worden zu sein. Doch schlussendlich bestand Mirandas größte Charakterstärke in der heimlichen Überzeugung, dass alles genau so laufen würde, wie sie es sich in ihrer Begeisterung vorstellte. Sie machte sich keinerlei Gedanken darüber, was dieWelt von ihr oder ihrenWutausbrüchen hielt, denn in ihrer Auffassung entsprach dieWelt genau ihrer Fantasie. Und Miranda glaubte so leidenschaftlich an die Fantasie wie andere Menschen an Gott oder den Kapitalismus: Die Fantasie besaß enorme Kraft.
    Annie, die sehr genau wusste, was dieWelt von ihr hielt – oder zumindest fürchtete, es genau zu wissen –, betrachtete ihre jüngere Schwester oft mit Staunen. Miranda war so unbefangen, dass ihrer älteren Schwester sogar die bittere Befriedigung des Neids versagt blieb. Im Grunde war Annie sogar seit jeher stolz gewesen auf die Schönheit und den arglosen Charakter ihrer Schwester.
    Allerdings konnte Annie auch nicht ignorieren, dass Miranda ausgesprochen egozentrisch war, und nachdem sie seit Jahren zusah, wie ihre Schwester eine katastrophale Beziehung nach der anderen beendete, war Annie zu dem Schluss gekommen, dass Mirandas Selbstbezogenheit möglicherweise eine Schutzreaktion war.Wo Miranda auch hinschaute, sah sie nur dieWelt, die sie sehen wollte. Das war ihre Fähigkeit zurTautologie, die Annie seit ihrer Kindheit ebenso faszinierte wie frustrierte. Wie konnte man bei einer Streiterei mit einer solchen Schwester jemals den Sieg davontragen? Wie nur?
    Diese Frage stellte sich Annie erneut, als sie vor dem Cottage stand.Verwahrlost, schäbig und miesepetrig hockte es auf dem Grundstück. Die geschlossenen Fenster, zwischen denen tote Fliegen pappten wie gepresste Blumen, waren trüb und schmutzverkrustet und blind. Die trockene, aufgesprungene Erde imVorgarten war nur hier und da von einigen kläglichen Ansammlungen von Süßgräsern aufgelockert. Es gab zwei Bäume: eineTanne mit einem abgestorbenen Wipfel und einen kahlen, knorrigen Obstbaum. Zwei gesprungene Betonstufen führten zurVeranda, und einige Fenster, in denen Lamellen fehlten, wiesen gähnende schwarze Löcher auf.
    Mirandas Blick dagegen fiel auf wilde Ranken mit dunkelgrünen Blättern und blassrosa Blüten, die sich um die Hausecke schlängelten. Die Blüten der R osen waren winzig und zart und entblößten ihr gelbes Herz. Über ihr knarrte etwas, und als Miranda aufschaute, sah sie ein Eichhörnchen, ein grauesWesen mit zierlichen Krallen, auf einem Ast hocken.Weiße Spätsommerwolken drifteten am tiefblauen Himmel dahin, und vom Meer wehte der salzige Duft desWassers herüber. Im Schatten des Hauses war ein dunkelgrünes Moospolster auf dem einstigen Rasen gediehen. Miranda zog ihre Schuhe aus und stellte sich auf das weiche, kühle Moos. Dann streckte sie die Hand aus und berührte den alten Baum neben ihr, strich über die rissige Rinde.
    »Wir werden hier glücklich sein«, sagte Betty.
    Miranda lächelte ihre Mutter an. »Wir sind es schon.«
    Miranda und Betty schwärmten noch immer von den wunderbaren Möglichkeiten des Hauses, und Annie blickte noch immer betroffen um sich, als plötzlich

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