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Die drei Hellwang-Kinder

Die drei Hellwang-Kinder

Titel: Die drei Hellwang-Kinder
Autoren: Horst Biernath
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anmerken, daß sie an die vielen braven Kinder keineswegs glaubte. »Weil ich alles schon kann«, antwortete sie schließlich auf die direkt an sie gerichtete Frage nach dem Grund ihrer Lüge.
    »Soso, du kannst also schon alles«, meinte Fräulein Zögling mit einem Hohnlächeln, »nun, das werden wir ja sofort feststellen können. Also bitte! O Haupt voll Blut und Wunden...Nun, dann sage doch die erste Strophe des Liedes gleich einmal auf!«
    Aber das maliziöse Lächeln verging ihr rasch, Lydia vollendete die erste Strophe ohne Stocken. Das Einmaleins mit sechs ging vor- und rückwärts wie am Schnürchen, und es war vorauszusehen, daß die Leseprobe der Geschichte vom Hasen und vom Igel genau so gut ausfallen würde. Lydia grinste triumphierend: »Ha, und was sagen S’ nu?«
    »Zur Strafe dafür daß du mich zu belügen versucht hast, wirst du die erste Strophe des Liedes dreimal in Schönschrift in dein Heft schreiben.«
    Britta kicherte, denn ihrer Meinung nach geschah es Lydia recht, und Lydia ließ die Nase hängen. Ihre Augen glänzten vor Wut schwarz wie Kohlen. Fräulein Zögling schob die Kinder aus dem Zimmer, sie schloß die Tür hinter ihnen ab und lauschte ihnen nach, wie sie die Treppe hinuntersprangen. Minutenlang stand sie regungslos an der Tür und preßte die Stirn gegen das kühle, weiß lackierte Holz. Und langsam ballten sich ihre Finger zu Fäusten. Erzieherin, Hausdame — sie haßte ihren Beruf und sie haßte Kinder. Sie haßte die Unsicherheit und Abhängigkeit ihrer Stellung und den zigeunerhaften Wechsel von Ort zu Ort und von Haus zu Haus. Immer neue Gesichter, neue Räume, neues Sicheinfügen. Und dazu im Herzen die nagende Furcht vor dem Alter. Wo blieb sie nach zehn, nach zwanzig Jahren, wenn sie verbraucht und zermürbt war?
    Sie stieß sich von der Tür ab und irrte blind durch den kleinen Raum. Das Teeservice klirrte metallen auf, als sie mit der Hüfte die Kommode streifte. Nicht einmal echt!! Ihre Schultern begannen zu zucken, und sie biß sich, als müsse sie einen Schrei unterdrücken, in den Finger. Am liebsten hätte sie das ganze Zeug und alle Andenken dazu gepackt und durchs Fenster geworfen. Dieser Schuft! Dieser nach Leder und Schweiß stinkende Schuft, der seine Jagdhunde anständiger als seine Kinder behandelt hatte. Von dem Kindermädchen war sie hinausgebissen worden, von diesem frechen, rothaarigen Luder, das nach billiger Seife roch...
    Sie ließ sich in einen Sessel fallen und weinte — Tränen der Wut, Tränen der Müdigkeit, Tränen der Verzweiflung.
    Unten öffnete Lydia die Tür des Kinderzimmers spaltbreit und lauschte nach oben. Als sich im Hause nichts rührte, schlüpfte sie aus dem Zimmer hinaus, zog die Tür hinter sich lautlos zu und schlich auf Zehenspitzen in die Küche hinüber.
    Kathi legte den Geschirrschrank mit neuem Papier aus. Beim Stangl gab es so wunderschöne Papierspitzen für die Stirnseiten der Bretter, mit Sprüchen im rot auf gedruckten Kreuzstichmuster: Reiner Herd — Goldes wert, oder: Im Schranke weißes Linnen, im Herzen reines Sinnen, und alles wohl verwahrt — ist rechter Hausfrauen Art. — Mit der verstorbenen Gnädigen hatte sie sich bei jedem Schrankauslegen deswegen zerkriegt. Luisa war nicht dafür gewesen, wegen des guten Geschmacks...Weiß der Himmel, was die »bessern Leut« allweil mit dem guten Geschmack hatten. Ihr gefiel’s! Und jetzt hätte sie den Schrank nun nach Herzenslust und nach ihrem Geschmack mit den buntesten Mustern auslegen können, aber jetzt g’freute es sie nimmer. Vielleicht schaute die Gnädige in diesem Moment von oben herab und dachte: Ha, sieh einmal an, so ein Frauenzimmer! Kaum ist man aus dem Haus, da tanzen auch schon die Mäuse! —
    Lydia schnurrte am Büffet entlang, öffnete hier eine Tür, drehte dort am Schlüssel und spitzte schließlich in die Speisekammer hinein, aber es stand leider nichts darin, wonach sie der Gaumen kitzelte.
    »Du, Kathi, hast a Gutti für mi?« flötete sie und ließ die rote Zungenspitze über die Lippen spielen.
    Kathi tat, als wäre sie plötzlich schwerhörig geworden. Lydia tänzelte ein Weilchen um sie herum und klopfte an, ob sie beim Schrankauslegen helfen dürfe
    »Naa, ich werd alloa fertig!« sagte Kathi kalt und abweisend. Lydia begriff nicht, warum der Wind auch in der Küche so kühl wehte.
    »Du, Kathi, ich hab’ vorhin gefragt, ob du ein Gutti für mich hast?« Warum sie plötzlich nach der Schrift sprach, wußte sie selber nicht. War das
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