Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
gewinnen lassen.«
»Tja, Ben, kann sein, dass ich ein paar Sachen weiß, die du nicht weißt, aber das wird sich bald ändern, weil ich nämlich vorhabe, dir heute noch alles zu erklären (erst wollte ich das nicht, aber ich habe viel nachgedacht und mich dann doch dafür entschieden). Was ich dir aber jetzt schon sagen kann, ist, dass ich das Ende der Geschichte auch nicht kenne. Vielleicht sollte ich in der Lage sein, es zu erraten, aber das kann ich nicht. Es könnte völlig überraschend sein oder auch total vorhersehbar. Wie auch immer, ich weiß es nicht.«
»Es ist interessant, wie wir Enden definieren.«
»Das klingt nach einem Aufhänger für eine ziemlich intellektuelle Diskussion.«
»Geschichten gehen ja normalerweise nicht so lange, bis alle tot sind, obwohl dann alles schön klar definiert wäre. Wir erzählen sie einfach bis zu einem bestimmten Moment und dann sagen wir plötzlich Ende, aber das heißt eben nicht, dass nicht auch danach noch irgendetwas Interessantes passiert; es heißt lediglich, dass wir an dem Punkt aufhören, die Geschichte zu erzählen. Vielleicht sollte unsere einfach hier und jetzt aufhören.«
»Noch vor der großen Auflösung?«
»Was ist, wenn es gar keine gibt? Oder wenn die Erklärung für das alles total enttäuschend ist?«
»Meine Güte! Hör auf, dir Gedanken darüber zu machen, wie enttäuschend alles enden könnte, und mach einfach weiter.«
Sie hatte recht. »Na dann komm«, sagte ich und sprang von meinem Hocker.
Wir tranken unser Bier aus und ich folgte Beatrice aus dem Restaurant und ins Foyer des Chelsea Hotels. Wir lächelten und sagten Hallo und gingen direkt weiter zu den Aufzügen, wo Beatrice den Knopf für den sechsten Stock drückte.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, lehnten wir uns jeder auf einer Seite des Aufzugs an die Wand, sahen einander im Spiegel an und lächelten ein bisschen.
»Du bist gestern hier gewesen«, stellte ich fest.
»Mhmm.«
»Ich meine, bevor du mit mir hier warst.«
»Mhmm.«
Die Türen gingen auf.
»Nur um sicherzugehen: Wir sind doch auf dem Weg zu Butterflys Mum, oder?«
»Genau. Sie erwartet uns schon.« Beatrice führte mich durch einen Flur mit weißem Marmorboden und klopfte an eine der Türen. Eine Japanerin, jünger, als ich erwartet hatte, öffnete und lächelte uns an.
»Hallo, Beatrice, wie geht es Ihnen? Und Sie müssen Ben sein.« Sie schüttelte mir die Hand. »Mein Name ist Nanako. Ich bin Butterflys Mutter.«
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Kommen Sie rein. Möchten Sie einen Kaffee? Ach nein, Sie sind ja Engländer, Sie hätten bestimmt lieber Tee, oder? Ich hätte Earl Grey da, wenn Sie mögen.«
»Mir würde ein Glas Wasser reichen«, erwiderte ich.
»Ich nehme sehr gern einen Kaffee«, sagte Beatrice. »Danke.«
»Bitte, setzen Sie sich doch.«
Beatrice und ich setzten uns. Im Zimmer roch es angenehm nach Leinöl und die Wände hingen voller Gemälde, beinahe wie im Foyer. Ich sah eine Staffelei mit einer großen Leinwand darauf. Auf einer Seite des Zimmers lehnten stapelweise gerahmte Bilder mit wilden abstrakten Motiven. Der Raum wirkte gemütlich, schien aber irgendwie in ein anderes Zeitalter zu gehören. Vielleicht in die frühen Siebziger.
»Wie ich hörte, sind Sie Schriftsteller, Ben?«, fragte Butterflys Mutter.
»Na ja, ich schreibe hin und wieder ein bisschen.«
»Wie schön. Beatrice hat gesagt, Sie wollten mich gern sprechen. Recherchieren Sie für ein Buch über meine Tochter?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich würde jedenfalls gern ein bisschen über sie herausfinden.«
»Fragen Sie mich ruhig, was Sie wollen. Es kann zwar sein, dass ich nicht immer die Antworten weiß, aber ich werde mir Mühe geben.«
»Wie kam sie zu dem Namen Butterfly?«
»Das ist ein Spitzname, den ihr Kindermädchen ihr gegeben hat, als sie geboren wurde. Mir hat er nie gefallen. Er hat so etwas Tragisches an sich. Den Namen Tomomi habe ich für sie ausgesucht, er bedeutet schöne Freundin, aber von allen anderen wurde sie immer nur Butterfly genannt, also habe ich irgendwann auch damit angefangen.«
»Hat es Sie gestört, dass sie so viel Zeit mit ihrem Kindermädchen verbracht hat?«
»Um ehrlich zu sein, war ich anfangs ziemlich froh, dass Keiko da war, um mir zu helfen. Nach Butterflys Geburt war ich ziemlich depressiv und ich war noch so jung und habe mich furchtbar geschämt, dass ich nicht vor Freude über die Geburt meines Kindes strahlte. Mit der Zeit wollte
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