Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
ich dann mehr Zeit mit Butterfly verbringen, doch ihr Vater hielt mich von ihr fern. Ich war wütend, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wie ich meine Tochter zurückbekommen sollte. Wissen Sie, dass Keiko, die Frau, die Butterfly großgezogen hat, unheilbar krank war?«
»Ja.«
»Irgendwann erklärten mir die beiden, dass Butterfly alles war, was Keiko hatte, und ich sie einer sterbenden Frau doch nicht wegnehmen konnte. Nach ein paar Jahren schaffte ich es, mir ein Besuchsrecht zu erstreiten, sodass ich sie einmal pro Woche sehen durfte, aber sie hat nie bei mir gelebt.«
»Mein Gott, das ist ja schrecklich.«
»Haben Sie nicht allzu viel Mitleid mit mir. Die beiden haben gut für mich gesorgt und mir viel ermöglicht. Sie haben mir ein Leben, Kultur und Bildung geschenkt, auch wenn das alles nur eine Art Entschädigung dafür war, dass sie mir mein Kind weggenommen haben. Heute verdiene ich mein Geld mit dem Malen. Es hat viele Jahre gedauert, aber mittlerweile führe ich ein angenehmes Leben und lerne Butterfly langsam als Erwachsene kennen, obwohl es dazu erst gekommen ist, nachdem sie nach Frankreich gezogen war.«
Ich runzelte die Stirn, als mir eine Frage in den Sinn kam. »Wann ist sie denn nach Frankreich gezogen?«
»Schon vor einer ganzen Weile. Ich weiß nicht mehr genau, wann. Aber es muss kurz nach dem 11. September 2001 gewesen sein, weil ich mir Sorgen wegen des Fluges gemacht habe.«
»Mir wird langsam klar, dass es eine ganze Menge Dinge gab, die ich über Butterfly nicht wusste«, sagte ich. »Es ist so traurig, dass ich erst jetzt anfange, die Stückchen zusammenzupuzzeln.«
»Oje, Sie sprechen ja in der Vergangenheitsform von ihr. Haben Sie beide sich zerstritten?«
»Nein, überhaupt nicht.« Ich merkte, wie ich rot wurde.
Wusste Nanako etwa nicht, dass Butterfly tot war? Oder hatte Beatrice recht und Tomomi Ishikawa war noch am Leben? Tomomi hatte mir selbst gesagt, dass sie tot war. Warum hätte sie mich anlügen sollen? Warum hätte sie mir dermaßen wehtun sollen? Ich sah Beatrice an und sie warf mir einen finsteren Blick zu und schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass ich das, was ich als Nächstes sagen würde, besser für mich behalten sollte, aber es platzte einfach aus mir heraus.
»Wir haben uns am Ende nicht mehr so oft gesehen«, begann ich. »Aber ich glaube, wir sind im Guten auseinandergegangen. Sie hat mir ein paar ihrer Tagebücher hinterlassen, die ich gerade lese, aber es ist schön, nun Sie kennenzulernen, sodass ich noch ein paar Lücken füllen kann.«
»Ich habe das Gefühl, ich habe irgendetwas Wichtiges verpasst. Welches Ende? Ich verstehe das nicht. Was ist denn zu Ende gegangen?«
Beatrice räusperte sich. »Ben glaubt, dass Butterfly tot ist. Und das kann man ihm auch kaum vorwerfen.«
Also wusste Beatrice, dass Tomomi Ishikawa am Leben war. Wahrscheinlich hatte sie es die ganze Zeit gewusst. Sie hatte so oft versucht, mich darauf zu stoßen.
Nanako blickte schockiert zwischen Beatrice und mir hin und her. Beatrice hatte eine Miene aufgesetzt, als wäre ich entweder minderbemittelt oder ein bisschen durchgeknallt, auf jeden Fall aber nicht ernst zu nehmen. Jetzt starrten wir sie beide an.
»Butterfly hat ihm selbst gesagt, dass sie tot ist, und er lässt sich einfach nicht vom Gegenteil überzeugen. Er ignoriert selbst die offensichtlichsten Anzeichen dafür, dass es nicht so ist.«
»Nun ja, wenn sie nicht innerhalb der letzten Stunde gestorben sein sollte, ist sie auf jeden Fall am Leben.«
»Sie war hier?«, fragte ich.
»Ja.«
»Was – vor einer Stunde?«
»Lassen Sie mich sehen … Ungefähr, ja.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen so einen kranken Schwachsinn erzähle«, murmelte ich zerknirscht.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Nanako und wirkte nun ehrlich bestürzt. »Sie hat mir erzählt, sie sei nach New York gekommen, um Sie zu sehen.«
»Tja, kann schon sein, dass sie mich gesehen hat, ich sie aber nicht.« Ich konnte Beatrice nur noch hasserfüllte Blicke zuwerfen.
»Oje, ich weiß wirklich überhaupt nicht, was das alles zu bedeuten hat.«
Das Telefon klingelte und wir zuckten zusammen. Nanako nahm ab. Sie war so offensichtlich schockiert, dass ich mich am liebsten überschwänglich entschuldigt und dann so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht hätte. Beatrice lehnte sich in ihrem Sessel zurück und seufzte, in ihren Augen standen Tränen. Ich sah, wie viel Mühe es sie kostete, ruhig zu
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