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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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Linie 7bis. Bei Buttes-Chaumont stieg ich aus und wartete auf die Durchsage, die mich darüber informierte, dass für heute keine Züge mehr verkehrten, und marschierte dann, ohne mich umzusehen, ohne Cat zu rufen, ohne mir auch nur die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, an dem gelben Schild am Ende des Bahnsteigs vorbei, demzufolge ich mich in Lebensgefahr begab, und stieg die schmale kleine Treppe hinunter. Ich lief ein Stück geradeaus und hielt mich dabei dicht an der Tunnelwand. Niemand rief mir etwas nach, niemand folgte mir und meine Hand streifte die Pflanze, die einzige Pflanze in der Pariser Metro. Butterflys Kreideschrift und die Pfeile waren nicht mehr zu sehen, aber ich wusste auch so, wo ich hinmusste. Auf der linken Seite fand ich schließlich den Durchgang mit der Treppe, die dahinter in der Dunkelheit verschwand, und ich tastete mit dem Fuß nach jeder Stufe, bevor ich mein Gewicht darauf verlagerte.
    Wo eine Geschichte endet, liegt im Ermessen des Erzählers. Heute weiß ich, ich hätte sie in New York enden lassen und glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit sein sollen. Aber das tat ich nicht; stattdessen schrieb ich sie weiter, jedes Wort, jede Stufe abwärts kostete mich quälende Sekunden und selbst nach ein paar Minuten konnte ich hinter mir noch immer das Licht am oberen Ende der Treppe sehen. Schließlich erreichte ich ebenen Boden und links von mir zweigte ein Gang ab. Es war stockdunkel hier unten und meinen Augen blieb nichts, worauf sie sich hätten einstellen können. Ich versuchte weiterzugehen, doch mein Körper weigerte sich. Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Notizbuch, riss eine Seite heraus, rollte sie zusammen und zündete ein Ende an. Ich befand mich in einem Tunnel, etwa einen Meter breit und zwei Meter hoch, die Wände aus Stein, nicht gemauert, sondern aus blankem, bleichem Fels. Ich kam ganze zehn Schritte weit, bevor ich eine neue Fackel brauchte, und riss ein Blatt nach dem anderen aus meinem Notizbuch. Ich hatte mit den leeren Seiten ganz hinten angefangen, gelangte jedoch schon bald zu meinen Aufzeichnungen über New York; Sachen, die ich in Cafés notiert hatte, Straßennamen, Plätze, drei Fragen über Butterfly. Würde ich mich ohne meine Notizen daran erinnern können? Würde all das überhaupt noch existieren, wenn es diese Seiten nicht mehr gab?
    Ich lief jetzt Richtung Osten, oder vielleicht Südosten, und kam nur langsam voran. Nachdem ich mein Notizbuch verfeuert hatte (inklusive des Einbands), nahm ich mir die Göttliche Komödie vor. Was ziemlich schade war, ich hatte gerade mal den ersten Gesang gelesen. Dante verbrannte schneller als meine hingekritzelten Gedanken und ich versuchte anhand der verbrauchten Seiten auszurechnen, wie lange ich schon unterwegs war, aber das war gar nicht so einfach. Solange ich um vier Uhr wieder zu Hause war, war alles in Ordnung. Ich würde einfach nicht mehr als die Hälfte der Göttlichen Komödie verbrennen, damit ich noch genug Seiten übrig hatte, um den Weg zurück zu den Metrogleisen zu finden, und könnte vor der Arbeit sogar noch ein paar Stunden schlafen. Plötzlich teilte sich der Gang. Okay, diese Gabelung würde ich mir merken können. Ich musste mich für eine Richtung entscheiden und wandte mich nach links.
    Ich hatte das Gefühl, dass der Tunnel in einem leichten Bogen verlief, obwohl das schwer zu sagen war; wahrscheinlich bewegte ich mich nun Richtung Osten, oder vielleicht Nordosten, da kam ich an eine T-Kreuzung. Ich ging nach rechts, wo ich Süden vermutete. Wieder landete ich an einer Kreuzung. Wie viele davon würde ich mir noch merken können? Ein einziger Fehler, und ich wäre verloren. Ich dachte an Theseus und den Minotaurus – ich brauchte eine Garnrolle. Ich zupfte an meiner Jacke und versuchte, einen Faden loszufriemeln, den ich irgendwo befestigen konnte, sodass sie sich, wie in einem Cartoon, aufribbeln und immer kürzer und kürzer werden würde, je weiter ich lief; dann würden meine Ärmel einer nach dem anderen verschwinden, bis ich irgendwann nur noch zwei Taschen, einen Kragen und den Reißverschluss am Leib hätte, dafür aber einen Faden in der Hand, der mich aus diesem Labyrinth herausbringen würde. Doch so einfach ließ sich der Stoff nicht aufdröseln (um nicht zu sagen: überhaupt nicht). Also entschied ich mich, geradeaus zu gehen. Der Tunnel war eine Sackgasse und am Ende zugemauert. Zurück an der Kreuzung war geradeaus die Richtung, aus der ich gekommen war. Ich

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