Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
erste Regenschauer seit meiner Ankunft in New York. Ich holte meine Zigaretten heraus, zündete zwei an und reichte ihr eine. Und so saßen wir da und rauchten, eng aneinandergekuschelt, und sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter, als plötzlich der Wind auffrischte, die Bäume sich wie in Panik wanden und der Himmel einen wahren Ozean auf uns herabrauschen ließ. Innerhalb von Sekunden waren wir völlig durchnässt und unsere Zigaretten verloschen. Wir rannten zu der Bryant-Statue und quetschten uns hinter den Sockel, wo wir vor Wind und Regen geschützt waren. Und nachdem wir uns das Wasser aus den Gesichtern gewischt und von den Händen geschüttelt hatten, holte ich zwei neue Zigaretten heraus und zündete sie an. Butterfly leckte sich einen letzten, nicht vorhandenen Tropfen von der Nase, mehr zu humoristischen Zwecken als aus Notwendigkeit, und wir lachten und kauerten uns eng umschlungen nieder und sie schmiegte schaudernd den Kopf an meine Brust.
Nach etwa zwanzig Minuten hörte es auf zu regnen. Butterfly stand auf und strich ihre nassen Kleider glatt.
»Mach’s gut«, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. Im nächsten Moment hatte der Gott der imaginären Dinge mit den Fingern geschnippt und Tomomi Ishikawa war verschwunden – nie da gewesen – und ich hockte, allein und zitternd, hinter dem Sockel. Aber das ging mir zu schnell und so stellte ich mir vor, wie sie auf das Karussell zuging und sich noch einmal zu mir umdrehte, um zu sehen, ob ich noch da war. Es war zu dunkel und sie war zu weit weg, als dass ich hätte erkennen können, ob sie lächelte. Vielleicht würde sie am Springbrunnen stehen bleiben und einen letzten Blick auf ihre Bibliothek werfen.
Ich ging an der Südseite des Gebäudes entlang (um alles schön symmetrisch zu halten) zur 5th Avenue und nahm mir ein Taxi zurück zum Hotel.
TEIL 3
S EPTEMBER 2007
25
F RAGEN ÜBER F RAGEN
Wo eine Geschichte endet, liegt im Ermessen des Erzählers. Das erscheint mir wie ein Mantra, das ich schon seit Jahren immer wieder aufsage. Aber ab einem gewissen Punkt muss man einfach loslassen und sagen: »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit.« Und als ich zurück nach Paris kam, hatte ich genau das vor. Ich verbrachte meine Abende beim Essen mit Freunden, mit Gesprächen und Wein, und überlegte, was als Nächstes mein Interesse wecken würde, so als wählte ich ein neues Buch zum Lesen aus. Doch die Leute stellten mir immer dieselben Fragen, dieselben Fragen, die auch an mir nagten und mich um den Schlaf brachten. Wo war Butterfly? Warum hatte sie mir geschrieben, sie sei tot? Hatte sie wirklich all diese Menschen ermordet? Ich schrieb die Fragen in mein Notizbuch und klappte es zu, in der Hoffnung, die Angelegenheit sei damit erledigt.
Das Arbeitsleben hatte mich zurück. In den ersten paar Tagen kam ich meinen Aufgaben wie mechanisch nach; ich wusste, es würde eine Weile dauern, bis ich mich wieder eingewöhnt hatte, und war fest überzeugt, dass die quälenden Fragen irgendwann von selbst verstummen würden, solange ich nur mein Notizbuch geschlossen hielt.
Beatrice und ich schrieben uns ein paar E-Mails und verabredeten uns für die darauffolgende Woche, wenn sie in Paris sein würde. Von Butterfly oder Charles Streetny kamen keine Mails mehr und das war auch gut so.
Begierig, mich in einer neuen Geschichte zu verlieren, durchstöberte ich mein Bücherregal, doch das einzige Buch, das ich noch nicht gelesen hatte, war Dantes Göttliche Komödie , die schon seit geraumer Zeit dort herumstand und ignoriert wurde. Schon nach wenigen Seiten döste ich ein und die Verse sickerten in meine Träume. Ob es mir nun gefiel oder nicht, ich hatte mit Butterfly noch nicht abgeschlossen. Und ich wusste, wo sie war.
Cat kam und sprang auf meine Brust. Er patschte mir mit dem rauen Ballen seiner Pfote ins Gesicht.
»Verdammte Scheiße, Cat, was willst du denn?« Es war Donnerstagabend und ich war früh ins Bett gegangen, um mich ordentlich auszuschlafen, damit ich am nächsten Tag ordentlich arbeiten und einen ordentlichen Freitagabend in einem Restaurant und danach in einer Bar verbringen konnte, wo ich mich nett unterhalten und Spaß haben würde. Aber Cat ließ einfach nicht von mir ab, also stand ich um halb zwölf am Donnerstagabend wieder auf, zog mich an, fuhr mit dem Aufzug nach unten und ging zur Metro. An der Station Jaurès ging ich die Treppen hinunter und wanderte durch die Gänge bis zum Bahnsteig der
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