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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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wandte mich nach rechts und damit wieder nach Osten.
    Ich hatte bereits gut hundert Seiten der Göttlichen Komödie verfeuert, die wie lang war? Vielleicht siebenhundert Seiten? Es musste so gegen zwei Uhr sein. Das war okay. Solange ich bis sechs zu Hause war. Der Weg gabelte sich abermals, doch diesmal hatte ich keine Wahl, denn der rechte Gang wurde von einer Stahltür mit einem Schloss davor blockiert. Ich versuchte, meine bisherige Route zu rekapitulieren, und sagte mir die Stellen, an denen ich abgebogen war, immer wieder wie einen Merkvers auf: Links an der ersten, rechts an der nächsten, links an der großen Kreuzung, links an der nächsten … Dann stieß ich auf eine Wendeltreppe. Ich zählte die Stufen. Dreißig. Jede davon beschrieb eine Windung von, sagen wir, dreißig Grad, also bildeten zwölf Stufen eine volle Umdrehung. Als ich unten ankam, musste mein Gesicht also in die entgegengesetzte Richtung zeigen als am Anfang der Treppe. Vielleicht. Links an der ersten, rechts an der nächsten, links an der großen Kreuzung, links an der nächsten, dann die Treppe runter. Wenn ich allerdings länger brauchte als bis halb sechs, fuhr die Metro wieder und auf dem Weg zurück zum Bahnsteig Buttes-Chaumont würden ständig Züge an mir vorbeirasen. Der Tunnel wand sich nach links, dann nach rechts und ich fand mich in einem großen Raum mit mehreren Ausgängen wieder. Dantes Leuchtkraft reichte nicht aus, um den gesamten Raum zu erhellen, also lief ich einmal im Kreis und zählte dabei die Tunnel. War das hier der, durch den ich hergekommen war? Sechs. Ich legte eine Buchseite vor einem der Ausgänge auf den Boden und ging noch mal Abzweigungen ab, um zu prüfen, ob ich richtig gezählt hatte. Hatte ich nicht. Es waren sieben, allerdings hatte sich die Seite ein kleines bisschen bewegt, was bedeutete, dass es hier unten einen Luftzug gab, oder aber ich hatte ihn beim Gehen verursacht. Ich war müde und konnte nicht mehr klar denken. Was zum Teufel machte ich eigentlich hier? War ich verrückt geworden? Ich musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.
    Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, doch die Wendeltreppe erschien nicht, oder zumindest noch nicht. Ich dachte an Städte und Landkarten. Ich dachte an Venedig und Havanna und stapfte weiter, verlor mich im Rhythmus meiner Schritte. Das halbe Buch war weg. Ich lief in die falsche Richtung. Ein paarmal musste ich umkehren, weil der Gang plötzlich voller Wasser stand, das zu tief zum Durchwaten war, und einmal stieß ich auf einen reißenden kleinen Strom. Vermutlich hätte ich zurück in den Raum mit den sieben Ausgängen gehen und mich dort auf den Boden setzen sollen, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
    Ich gelangte in einen anderen Raum. Er war unregelmäßig geformt, mit einem großen Felsbrocken in der Mitte, dessen Oberfläche auf Tischhöhe abgeflacht war, und daneben erhob sich eine einzelne Säule aus mehreren großen, zusammenbetonierten Steinen. Mich über meinen Leichtsinn zu ärgern, dass ich völlig unvorbereitet und ohne Plan in dieses unterirdische Labyrinth marschiert war, hatte keinen Sinn. Ich war gekommen, um Butterfly zu suchen. Nur deswegen war ich hier. Dies war eine heldenhafte und edle Tat, motiviert durch Freundschaft und Liebe, und ich war schließlich nicht tot. Ich hatte bloß nasse Füße und auch meine Jeans war durchtränkt bis an die Knie. Also legte ich mich erst einmal in Embryonalstellung auf den Felsblock und wartete.
    »Wach auf.«
    Ich versuchte, mich an Dante zu erinnern, der mir geraten hatte, in die andere Richtung zu gehen. Es erschien so logisch.
    »Wach auf!«
    Jemand berührte mich an der Schulter. Ich öffnete die Augen, doch es machte keinen Unterschied; ich sah nichts.
    »Hey, aufwachen, Ben Constable.«
    »Mir geht’s gut«, murmelte ich, während ich versuchte, mich zu entsinnen, wo ich war und warum ich nichts sehen konnte. »Bist du das?«
    »Ja.«
    »Kannst du denn im Dunkeln sehen?«, fragte ich. »Oder hast du irgend so eine Nachtsichtbrille?«
    »Ich habe eine Taschenlampe, aber die habe ich ausgeschaltet, damit sie dir nicht in den Augen wehtut.«
    »Das ist echt witzig. Ich schlafe nämlich normalerweise immer mit ein bisschen Licht, damit ich nicht völlig desorientiert bin, wenn ich aufwache.«
    »Tut mir leid.«
    »Schon okay. Ich weiß auch so fast nie, wo ich bin, ob mit Licht oder ohne.«
    »Du bist in den Tunneln unter Paris.«
    »Ja, ich habe die Dunkelheit

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