Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
wiedererkannt. Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach drei.«
»Kannst du bitte mal das Licht anmachen?«
Tomomi Ishikawa leuchtete mit ihrer Taschenlampe durch den Raum, sodass ich einen Eindruck von seiner Größe bekam, und richtete den Strahl anschließend auf sich selbst, für den Fall, dass ich noch Zweifel daran hatte, wer sie war. (Obwohl ihre Stimme für mich ein sehr viel eindeutigeres Erkennungsmerkmal war als ihr Gesicht.)
»Wie hast du mich gefunden?«
»Zufall. Ich bin reingekommen und du hast einfach hier rumgelegen wie eine Statue. Du hast mir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Wie lange bist du denn schon hier?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Wie spät ist es wirklich?«
»Keine Ahnung. Zeit interessiert mich nicht.«
»Natürlich nicht.« Meine Stimme klang unnötig spitz, und als mir das bewusst wurde, tat es mir sofort leid. Doch sie überging meine Bemerkung.
»Genauso wenig wie Tage.«
»Tja, also ich bin am Donnerstagabend gegen halb zwölf zu Hause losgegangen. Ich bin hier unten gelandet und ein paar Stunden rumgelaufen, bis ich mich verirrt habe, dann bin ich eingeschlafen und wieder aufgewacht und jetzt habe ich Hunger und bin immer noch müde und komme wahrscheinlich auch noch zu spät zur Arbeit.«
»Dann können wir wohl davon ausgehen, dass jetzt Freitag ist.« Sie knipste die Taschenlampe aus. »Ich will die Batterien ein bisschen schonen.«
»Vielleicht solltest du dir wiederaufladbare kaufen.«
»Die sind wiederaufladbar«, entgegnete sie. »Hier, man kann an diesem Kurbeldings drehen, dann laden sie sich wieder auf.« Ein Sirren ertönte, als sie hektisch den kleinen Hebel herumwirbelte. »Cool, was?«
»Butterfly, mach das Licht wieder an.«
Eine Sekunde lang schwiegen wir uns schüchtern an und ich musterte sie, wie sie da ein paar Meter von mir entfernt stand. Sie trug ein schlichtes Top, einen wadenlangen, an der Taille gerafften Rock und flache Schuhe wie eine Balletttänzerin. Sie lächelte und schwenkte ziellos ihre Taschenlampe, deren Strahl monströse Schatten auf Wände und Decke zeichnete.
Ich zündete mir eine Zigarette an, denn das tun Raucher nun mal, wenn sie nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollen.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich war auf der Suche nach dir.«
»Hast du eine Karte dabei?«
»Nein.«
»Eine Taschenlampe?«
»Nein.«
»Wow, nicht schlecht. Wenn man sich nicht auskennt, ist es ziemlich schwierig, sich hier unten zurechtzufinden. Es kommt immer mal wieder vor, dass sich Leute in diesem Labyrinth verirren und sterben. Sie finden nicht zurück und verhungern irgendwann wahrscheinlich einfach.«
»Spart dir die Mühe, sie umzubringen.«
»Wahrscheinlich.« Sie seufzte. Dann kicherte sie. »Obwohl das mit dem Umbringen natürlich der beste Teil ist.«
»Deine Geschichten, wie du alle möglichen Leute ermordet hast, haben mir gefallen. Nicht unbedingt beim Lesen selbst, aber rückblickend waren sie echt lustig und gruselig.« Sie antwortete nicht und unsere Unbeschwertheit geriet kurz ins Stocken und wir waren wieder schüchtern. »Ich bin davon ausgegangen, dass es hier unten Pfeile und alle möglichen Hinweise geben würde, denen ich folgen kann«, sagte ich dann.
»Die gab es auch. Aber ich bin herumgelaufen und habe sie weggewischt.«
»Warum?«
»Ich wollte nicht mehr, dass du mich findest.«
»Warum?«
»Manche Dinge ändern sich eben.«
Ich seufzte und dachte eine Sekunde nach. Eine seltsame Schwere breitete sich in meinem Inneren aus und plötzlich wollte ich nur noch allein sein. Ich wollte wirklich allein sein.
»Butterfly?«
»Ja?«
»Ich würde jetzt gerne gehen. Kannst du mir zeigen, wie ich hier rauskomme?«
»Du hast doch gesagt, du hast Hunger. Wir sollten was essen.«
»Ich komme jetzt schon zu spät zur Arbeit. Ich muss wirklich gehen.«
»Okay. Dann los.« Tomomi Ishikawa drehte sich um und der Strahl der Taschenlampe verschwand in einem Tunnel. Ich sah nichts mehr.
Ich überlegte, einfach stehen zu bleiben. Mir fiel die Erkenntnis wieder ein, die sich mir im Bryant Park, in meiner letzten Nacht in New York, offenbart hatte: Im wirklichen Leben gibt es keine große Auflösung. Egal wie weit ich reisen und welche Mühen ich auf mich nehmen würde, um Butterfly zu finden, die Antworten, die ich bekommen würde, könnten mich niemals zufriedenstellen. Nichts, was sie hätte sagen können, hätte dazu geführt, dass ich verstand und alles wieder gut wurde. So frustrierend es
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