Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Erste war es okay. Ich konnte einfach jeden Tag aufs Neue entscheiden, ob ich mich umbringen wollte oder nicht.«
»Verrückterweise erscheint das sogar ganz logisch. Aber es erklärt immer noch nicht, warum du mir gesagt hast, du wärst tot. Das war doch überhaupt nicht nötig.« Ich legte meine Zigarette in den leeren Joghurtbecher und goss den letzten Tropfen Wasser aus meinem Glas hinterher, um sicherzugehen, dass sie auch aus war, dann schob ich den Becher in die Mitte des Tisches, damit Tomomi Ishikawa ihn auch als Aschenbecher benutzen konnte.
Sie schnippte ihre Asche hinein und es zischte, dann blies sie mir aus Versehen ihren Rauch ins Gesicht. Entschuldigend wedelte sie mit der Hand. »Ich weiß nicht.«
»Was weißt du nicht?«
»Oder wahrscheinlich weiß ich es doch.« Sie seufzte. »Ein Teil meines Plans war ja, dass du meine Notizbücher findest. Ich wollte, dass du derjenige sein würdest. Du warst der einzige Mensch auf der ganzen Welt, von dem ich mir wünschte, dass er sie liest. Und zwar weil du selbst zu düsteren, abstrusen Gedanken neigst und weil ich dich liebe. Und außerdem, weil jemand diese Bücher lesen musste – sollte. Ich wollte, dass jemand ihren Inhalt kennt. Sie enthalten die ganze Last, die ich schon mein gesamtes Leben mit mir herumschleppe. Aber wenn du die Bücher lesen solltest, durften wir beide nicht mehr in derselben Welt verkehren. Ich hätte dein Mitleid oder deine Fragen nicht ertragen. Es war einfach kein Platz mehr für uns beide. Und außerdem hatte ich ja sowieso vor, mich umzubringen. Dir zu schreiben, dass ich tot bin, war einfach die offensichtlichste Lösung. Für dich hätte sich nichts geändert und ich hätte so lange weitermachen können, wie ich wollte – obwohl ich davon ausgegangen bin, dass das nicht besonders lange sein würde.«
»Tja, jetzt habe ich aber deine Bücher gelesen und weiß außerdem, dass du ein Leben nach dem Tod führst, im Pariser Untergrund. Was nun?«
»Ich weiß es nicht, Ben Constable. Dein unermüdlich wissbegieriger Geist hat alles verdorben, aber dafür liebe ich dich nur umso mehr.«
»Aber du wollest doch, dass ich herkomme, du hast Hier runter, BC neben die Pflanze in der Metro geschrieben.«
»Das war ja auch noch, bevor du die Bücher gelesen hattest. Damals war ich ziemlich hin- und hergerissen. Ich wollte, dass du mich rettest, und gleichzeitig, dass du alles über mich weißt. Aber ich konnte nur eins haben, entweder die Schatzsuche oder die Rettung. Du hast dich für die Schatzsuche entschieden, also habe ich die Hinweise weggewischt. Dass du beides machst, war nicht geplant.«
In diesem Moment hatte ich das vage Gefühl, sie zu verstehen, so als löste sich eine verschwommene Gestalt aus dem Nebel. »Oh«, sagte ich und danach eine Ewigkeit gar nichts mehr, während mein Gehirn versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. »Das tut mir echt leid. Du bist wirklich der eigenartigste Mensch, der mir je begegnet ist, Butterfly.«
»Ich glaube, das weiß ich.«
»Das Problem war nur, sobald mir klar wurde, dass du am Leben bist, musste ich mich vergewissern, dass es dir gut geht. Ich musste das alles verstehen. Mein Gehirn konnte es nicht einfach dabei belassen. Da waren zu viele unbeantwortete Fragen.«
Sie schob ihren Stuhl zurück, stellte sich vor mich und nahm meine Hände in ihre; ich stand ebenfalls auf.
»Es war wirklich nie meine Absicht, dir Kummer zu bereiten. Es sollte ein Spiel werden für uns beide, ein Abenteuer. Ich war nur so sehr mit dem beschäftigt, was in meinem eigenen traurigen, kranken Gehirn vor sich ging, dass ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe, wie du dich dabei fühlen könntest. Darin war ich noch nie besonders gut.« Ihre Finger spielten mit meinen.
»In was?«
»Darin.« Sie legte eine Hand an meinen Hinterkopf, zog mich zu sich herunter und küsste mich auf den Mund. Das hatte sie noch nie zuvor getan.
26
E INE HEIKLE S ITUATION
Aha. Das ist also das Ende. Nach allem, was passiert ist, küssen wir uns, denn es geht – anders, als ich erwartet hatte – bloß um: Sex, oder möglicherweise sogar Liebe. Vielleicht ist das hier nur eine Geschichte über zwei Menschen, die erst einen ziemlich langen und komplizierten Weg gehen mussten, um zueinanderzufinden. Trotzdem war es anders, als ich erwartet hatte. An meinen Lippen fühlte es sich gut an, gleichzeitig aber war ich enttäuscht. Ein Ende mit Kuss kam mir beinahe billig vor, vollkommen einfallslos. Das
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