Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
brauchen keine Antworten.«
»Hey, das wäre wirklich allerliebst, wenn du so cool wärst. Aber ich merke doch, wie du die ganze Zeit alles bewertest, wie du zu beurteilen versuchst, was wahr ist und was nicht. Wenn ich dir Lügen erzähle, glaubst du sie, und wenn ich von Dingen rede, die wirklich passiert sind, denkst du, sie wären gelogen. Dein ganzes Verhalten mir gegenüber basiert doch auf der Annahme, dass ich alles, was in meinen Notizbüchern steht, bloß erfunden habe. Stimmt’s?«
»Ich …« Meine Stimme versagte, als meine Antwort plötzlich nicht mehr zu passen schien.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte sie.
Ich war mir sicher, dass alles, was sie geschrieben hatte, erfunden war. Natürlich hatte ich in manchen Momenten gezweifelt, im Grunde aber wusste ich, dass ihre Geschichten nichts als Fiktion waren. Andererseits war ich, als sie mich in diesem Raum eingeschlossen hatte, bereit gewesen, um mein Leben zu kämpfen. Das war ja wohl ein absoluter Widerspruch – jeder gute Anwalt hätte mich in wenigen Sekunden in der Luft zerrissen.
Was glaubte ich denn nun wirklich?
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Butterfly. Ich denke nicht, dass alles, was du geschrieben hast, wortwörtlich so passiert ist, und das lässt nun mal den Schluss zu, dass es komplett erfunden ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du diese Leute umgebracht hast. Ich glaube eher, das sind Fantasien, in denen du dich in Machtpositionen versetzt, in denen das kleine Mädchen der Boss ist und darüber entscheiden darf, wer wann und wie stirbt. Mir gefällt die Vorstellung, dass du in deinem fremdbestimmten Leben endlich selbst die Kontrolle übernimmst. Aber ich glaube nicht, dass du diese Sachen wirklich getan hast, und ich verstehe nicht, warum du mich hier in diesen Kerker sperrst.«
»Du stellst mir eine Warum-Frage nach der anderen, aber wenn ich sie beantworte, hörst du nicht zu. Um zu verstehen, warum du in diesem Raum bist, musst du dir vorstellen, dass ich all diese Sachen wirklich gemacht habe: Leute erstickt, aufgeschlitzt, erstochen, verbrannt, vergiftet … Und jetzt stell dir vor, jemand weiß davon – dass ich sechs Menschen ermordet habe und mich hier unten verstecke –, und dass mich diese Person jetzt gefunden hat und von mir verlangt, mit meinem Versteckspiel aufzuhören und ein ganz normales, fröhliches Leben zu führen. Ich würde sagen, selbst dir in deiner unerschütterlich blinden Unschuld sollte klar sein, dass das nicht geht. Zum allerersten Mal habe ich tatsächlich ein Interesse daran, weiterzuleben, und genau dabei bist du mir im Moment im Weg.«
»Aber du hast doch selbst zugegeben, dass du lügst.«
»Was?«
»Einmal, als du betrunken warst, meintest du, alles, was du zu mir sagst, seien Lügen.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern, aber selbst wenn, ist es doch wohl ganz offensichtlich, dass das nicht stimmen kann. Manches waren Lügen, aber manches war eben auch die Wahrheit.«
Darauf fiel mir nichts mehr ein. Ich hatte geglaubt, sie würde mich angreifen. Ich hatte Verteidigungsmaßnahmen ergriffen. Ich musste es die ganze Zeit für möglich gehalten haben, dass sie diese Menschen ermordet hatte, und wenn das der Fall war und ich davon wusste, dann sah ich auch ein, dass ich ihr durchaus im Weg war. Ich wühlte in meiner Tasche nach meinen Zigaretten.
»Möchtest du eine?« Ich hielt ihr das Päckchen hin und Tomomi Ishikawa wich hastig zurück und richtete die Pistole auf mein Gesicht.
»Ganz ruhig, das sind doch nur Zigaretten«, beschwichtigte ich sie.
»Bleib weg vom Tor.«
»Schon gut. Möchtest du denn nun eine?«
»Nein danke. Ich habe mehr oder weniger aufgehört. Hast du zufällig ein Kaugummi?«
»Nein. Nur deine Bittermandel-Toffees.«
»Ich glaube, danach ist mir im Moment nicht. Vielleicht später.« Sie richtete sich auf.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Weiter improvisieren, bis mir was einfällt.« Dann ging sie.
Während ich schlief, stellte sie mir einen Joghurt, einen Krug Wasser und ein Glas in die Zelle. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war oder welchen Tag wir hatten. Ich fand mein Handy in meiner Tasche. Der Akku war noch nicht vollständig leer, aber natürlich hatte es keinen Empfang. Es war Samstag, fünfzehn Uhr zwanzig. Um den Akku für alle Fälle zu schonen, schaltete ich das Handy aus. Ich wusste nicht mehr, was ich noch zählen sollte. Ich hatte Hunger und mir war langweilig. Ich
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