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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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wusste ich, dass dort etwas für mich versteckt sein musste.
    Ich verließ die Metrostation durch die Glasmuschel und trat auf den Cour de Rome hinaus. Die Rollgitter in den Torbögen, durch die man ins Bahnhofsgebäude gelangte, waren halb heruntergelassen und ich ging davon aus, dass sie sich für die Nacht bald ganz schließen würden. Ich schlenderte an der Skulptur aus Koffern vorbei, und als ich den Cour du Havre erreichte, sah ich schon von Weitem das etwa vier Meter hohe Kunstwerk. Ein einsamer Finger aus weißen Zifferblättern ragte von seinem Sockel aus in den Himmel, jedes von ihnen zu einer anderen ewigen Uhrzeit erstarrt, um Bahnreisende und Passanten gleichermaßen in die Irre zu führen. Hin und wieder hielt ein Auto an der Ampel und fuhr weiter, sobald sie auf Grün umsprang. Ich setzte mich auf eine Bank und betrachtete die Uhren. Ich wusste nicht, worauf ich wartete. Dann tauchte Cat auf.
    »Hallo, Cat«, sagte ich und er setzte sich hin und blickte mich eine Weile an, dann umrundete er das Kunstwerk, hielt an, ließ sich auf die Hinterpfoten nieder und starrte zu der Skulptur hinauf, als erwöge er, mit einem Satz auf den Sockel zu springen.
    »Mach keinen Quatsch, Cat. So hoch kommst du nicht.«
    Er machte einen Satz und erreichte tatsächlich mit seinen Vorderpfoten die Kante des Sockels. Mit einem recht geschickten Ruck zog er sich ganz hoch, hockte sich hin und sah zu mir herunter. Ich stand auf und ging zu der Skulptur hinüber.
    »Ich weiß doch nicht mal, welche Uhr ich mir ansehen muss, Cat. Das müssen locker hundert Stück sein. Und wenn ich versuche, da hochzuklettern, werde ich wahrscheinlich verhaftet. Außerdem schaffe ich das unterste Stück nie im Leben. Dafür bin ich zu alt und ungelenkig und mir tun jetzt schon die Knochen weh.«
    Cat blickte mich völlig unbeeindruckt an. Ein Stück über seinem Kopf sah ich eine Uhr, die zwanzig nach drei anzeigte. Ihr Zifferblatt war von der Straße abgewandt. Es erschien mir nicht wie der allerpraktischste Ort, um etwas zu verstecken, aber wie schon Sherlock Holmes gesagt hat: Nachdem alles Unmögliche ausgeschlossen worden ist, muss man in dem, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es sein mag, die Wahrheit finden.
    Hatte ich das Unmögliche ausgeschlossen?
    Ich sah mich um. Es musste doch irgendetwas geben – einen rollbaren Müllcontainer oder so –, das mir das Ganze ein bisschen erleichtern würde. Es gab nichts. Scheiß drauf. Ich streckte mich und lockerte meine Nackenmuskulatur. Seit meiner Kindheit war ich nirgendwo mehr hochgeklettert.
    Ich langte hinauf und kam mit den Fingern gerade eben an die obere Kante des Sockels. Ich versuchte, mich hochzuziehen und die Füße vom Boden zu lösen. »Ach, verdammt, Cat, das ist doch echt albern. Und selbst wenn ich es irgendwie da rauf schaffe, wie soll ich denn dann wieder runterkommen? Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass Butterfly auf dieses Ding geklettert ist.«
    Cat stand auf und leckte mir die Fingerspitzen.
    »Kannst du wenigstens aufpassen, ob jemand kommt?« Ich hörte Autos an der Ampel halten, doch ich konnte sie nicht sehen, also ging ich davon aus, dass ich ebenfalls außerhalb ihrer Sichtweite war.
    Der Beton war rau unter meinen Fingern und ich zog mich so weit hoch, bis ich die Ellbogen auf dem Sockel hatte, dann ein Bein. Super. Und was mache ich jetzt? Ich spürte, wie ich zurückrutschte, und sah mich schon zwei Meter weiter unten auf den Hintern knallen. Ich grapschte nach einer der Uhren und zum Glück hielt sie. Plötzlich bekam ich ein schlechtes Gewissen; schließlich wollte ich die Skulptur nicht kaputt machen. Einen gewagten Satz und einen Moment bedenklichen Schwankens später hockte ich schließlich oben auf dem Sockel. Ich hob die Hand und ertastete, beinahe unsichtbar hinter der Zwanzig-nach-drei-Uhr, eine Schicht aus Isolierband. Ich knibbelte es ab und auf der Rückseite der Klebestreifen kam ein brauner Briefumschlag zum Vorschein. Darin steckte ein Notizbuch. Auf dem Cover stand Fremder und die Seiten waren mit blauer Handschrift gefüllt. Ich packte das klebrige Bündel in meine Tasche und kletterte wieder nach unten, wobei ich mir Schürfwunden an Unterarmen und Beinen einhandelte. Ich streckte die Arme aus, um Cat zu helfen, der jedoch ein paar Schritte zur Seite machte und allein heruntersprang.
    »Na los, machen wir, dass wir hier wegkommen«, sagte ich und wir rannten los.

5

    F REMDER
    Es ist schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen. Es

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