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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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Ich setzte mich mit einem Bier an einen Tisch am offenen Fenster und der Regen nahm zu. Ich starrte hinaus auf den Bürgersteig und füllte meine Lungen mit dem berauschenden Duft nach lauer Sommernacht und Wasser, der das Geräusch der Stimmen und das Klirren der Gläser zu einem angenehmen Hintergrundbrummen zu dämpfen schien. Doch trotz aller Behaglichkeit tat ich mir selbst leid. Ich holte mein Notizbuch heraus und begann zu schreiben.
    Als ich das letzte Mal auf diesem Stuhl saß, standen vor mir eine Flasche Wein, zwei Gläser und ein Aschenbecher. Tomomi Ishikawa saß mir gegenüber und schaute mich ernst an. Seitdem ist ziemlich viel Zeit vergangen. Vielleicht sogar ein ganzes Jahr.
    »Soll ich dir etwas Cooles erzählen?«, fragte sie.
    »Klar«, erwiderte ich.
    »Am Pantheon …«
    »Dem Pariser Pantheon?«
    »Genau. Da ist eine Uhr. Die ist ziemlich alt und schon vor langer Zeit stehen geblieben.«
    »Du magst stehen gebliebene Uhren.«
    Tomomi Ishikawa blickte auf ihre Armbanduhr – sie zeigte zwanzig nach drei an. »Ja«, sagte sie dann, »darum müsste diese Geschichte mich eigentlich traurig machen, aber das tut sie nicht, sie ist ziemlich cool, wie du gleich sehen wirst.«
    »Okay.«
    »Okay. Also, da ist so eine Gruppe von Intellektuellen. Die stecken ständig zusammen, wie ein Geheimbund.«
    »Wird das ein Witz?«
    »Nein. Hör einfach zu. Ihr Hauptquartier ist tief unter der Erde, in den Katakomben, da treffen sie sich und gucken Autorenfilme, trinken erlesene Weine und diskutieren über Kunst, kulturelles Erbe, Wissenschaft, Philosophie und all die Gründe, warum es mit Frankreich bergab geht. Wahrscheinlich veranstalten sie da unten sogar Konzerte – berühmte französische Musiker, die Stücke von großen französischen Komponisten spielen – und so weiter.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Psst, einen Teil denke ich mir bloß aus, aber nicht alles. Es ist eine wahre Geschichte. Sie sind eine Elitegruppe von Besserwissern, deren Wurzeln sich bis ins Zeitalter der Aufklärung zurückverfolgen lassen, und als Eingang zu den Katakomben benutzen sie eine Geheimtreppe in einer der Unis an der Rive Gauche, sagen wir mal, der Sorbonne, aber das ist ein Geheimnis, darum weiß ich es nicht genau.«
    »Und was hat das jetzt mit dem Pantheon zu tun?«
    »Dazu komme ich gleich.«
    »Okay.«
    »Also, eines Tages jammern sie mal wieder über die Wunder der modernen Architektur wie die Villa Savoye von Le Corbusier und kommen dann auf den traurigen Verfall von Nationalschätzen zu sprechen, als einer von ihnen die Uhr am Pantheon erwähnt, die nicht mehr funktioniert, und sie schlürfen ihren 1976er Château Lafite-Rothschild und schütteln missbilligend die Köpfe. Und plötzlich haben sie die geniale Idee, die Uhr einfach selbst zu reparieren – ohne Erlaubnis. Um das Gesetz scheren sie sich nicht, schließlich sind sie ein geheimer Eliteklub und treffen sich sowieso schon heimlich in ihrer verborgenen Kammer tief unter der Stadt, darum ist so etwas absolut nichts Besonderes für sie.«
    »Mmhmm.«
    »Also besorgen sie einen Haufen Werkzeug und machen sich am Abend auf den Weg zum Pantheon, wo sie sich in irgendeinem verborgenen Winkel verstecken, den nur sie kennen, und das Ende der Öffnungszeit abwarten, dann klettern sie hoch zu der Uhr und bauen sich eine kleine Plattform, von der aus sie fortan, monatelang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang, jede Nacht mühsam an der Uhr arbeiten, bis sie wieder in alter Herrlichkeit erstrahlt.«
    »Was, im Ernst?«
    »Ja.«
    »Cool.«
    »Na ja, als sie fertig sind, beschließen sie jedenfalls, einen Brief an den Direktor des Pantheons zu schreiben, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Uhr wieder läuft, und um ihm zu erklären, wie sie aufzuziehen und zu warten ist et cetera, aber anstatt sich zu freuen, regen sich die Zuständigen furchtbar auf, dass eine Bande von militanten Uhrenreparateuren direkt vor ihren Nasen in ihr Pantheon eingebrochen ist und ein Jahr lang mithilfe einer selbst gebauten Plattform einen solch schamlosen Vandalismus betrieben hat, und beschließen, die Uhr wieder kaputt zu machen, um zu verhindern, dass der Skandal an die Öffentlichkeit dringt. Also ziehen die Guerilla-Uhrenfreunde die Uhr selbst auf, sodass sie am nächsten Tag zum ersten Mal seit Jahren wieder schlägt und jeder überrascht aufschaut. Und der Direktor des Pantheons wird gefeuert.«
    »Oh«, sagte ich und empfand Mitleid mit dem Direktor. »Wann ist

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