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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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einzelnen Schritt durch, stählte mein Bewusstsein gegen jedes Gefühl von Angst oder Widerwillen, das die bevorstehende Aufgabe in mir auslöste. Ich prägte meinen Muskeln jede Bewegung ein, auf dass ich, selbst wenn mir jemand den Kopf abhackte, dieses letzte Versprechen mustergültig würde einlösen können, und ich war kein Neuling auf dem Gebiet des Tötens – das wäre geradezu unverantwortlich gewesen.
    Das Gummiband der Zeit zog sich unausweichlich zusammen, zerrte mich näher und näher an den Augenblick heran, und ich verbannte alles andere aus meinem Geist, konzentrierte mich wie noch nie zuvor. Mein tägliches Leben wurde zu einer Fassade, zu nichts als hohlen Handlungen, ich lief wie auf Autopilot, während ich meditierte und mich wappnete; den Adrenalinspiegel niedrig halten, kühl und rational denken. Denn Staub bist du und zu Staub wirst du werden, versprochen ist versprochen und ich werde tun, was mir aufgetragen wurde.
    Wie gerne würde ich noch einmal diese Klarheit, diese Entschlossenheit verspüren. Wie gerne würde ich mich noch einmal einer Sache mit einer solchen Hingabe widmen. Doch in mir wächst die Befürchtung, dass ich allein für diese Tat geboren wurde, und jetzt, da sie vollbracht ist, hat mein Leben keinen Sinn mehr.
    Eines Tages, vor langer Zeit in New York, sagte mein Kindermädchen Komori ihrem Heim und ihrem geliebten Manhattan Lebwohl und begab sich in eine Klinik in New Jersey, wo Doktor Bastide, der sie schon so lange medizinisch betreute, Chefarzt war. Sie erzählte allen, sie würde sich dort einer Intensivbehandlung unterziehen, in Wirklichkeit aber gedachte sie dort zu sterben. Das war der Plan.
    »Wir könnten eine Mastektomie vornehmen, aber es ist nicht der Krebs in ihrer Brust, der sie töten wird«, vertraute Dr. Bastide mir in einem stillen Moment an. »Wahrscheinlich jedoch die Operation.«
    Ich verbrachte meine Tage an ihrem Bett und begleitete sie in ihrem Leid. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, eine Perücke zu tragen, und ihre Haut war grau. Ich las ihr vor. Einmal kam mein Vater zu Besuch, und während die beiden miteinander redeten, nahm Dr. Bastide mich mit in sein Büro und erklärte, ihre Organe versagten eins nach dem anderen ihren Dienst und es werde Zeit, Abschied zu nehmen. Mir blieben noch zwei, vielleicht drei Tage. Als mein Vater wieder ging, nickte er mir zu. Das war unsere einzige Interaktion. Ich kehrte in ihr Zimmer zurück und Komori erzählte mir, es gehe ihr besser.
    Am Tag darauf sagte sie, sie sei möglicherweise bald kräftig genug für die Mastektomie. Sie fragte nach ihren Pflanzen. Beim Schichtwechsel kam eine Krankenschwester herein, tauschte den Infusionsbeutel aus und schüttelte die Kissen auf. Dann erschien Dr. Bastide, der sich eine Viertelstunde lang an ihr Bett setzte, ihr Fragen stellte und sie unterdessen mit dem Stethoskop abhorchte.
    »Das hier wird Ihnen die Nacht etwas angenehmer machen«, sagte er zu ihr und gab ihr eine Spritze. »Ich gehe jetzt nach Hause, aber ich bin ganz in der Nähe. Rufen Sie mich auf meinem Handy an, wenn irgendetwas ist, Butterfly.«
    Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blickten wir einander schweigend an und ich streichelte ihre Hand. Ihre Haut war wie Satin. Ihre Augen rollten in ihren Höhlen zurück. Sie war in kurzer Zeit um Jahre gealtert.
    »Komm, ich helfe dir, dich aufzusetzen.«
    »Wozu?«, fragte sie.
    »Es wird Zeit für deine Medizin«, erwiderte ich und holte eine Reihe von kleinen Päckchen aus meiner Tasche.
    »Ich kann nicht gut schlucken. Sie geben mir die Medikamente doch über den Tropf.« Ihre Stimme klang so hilflos wie die eines Kindes.
    »Das hier sind ergänzende Präparate. Du musst versuchen, sie zu schlucken.«
    »Ich werd’s versuchen, mein Liebling«, gab sie schließlich nach und ich kämpfte gegen den Kloß an, der sich in meiner Kehle bildete. So war das nicht geplant gewesen. Sie sollte mich nicht Liebling nennen.
    Ich suchte nach dem richtigen Knopf, um das Kopfteil ihres Bettes hochzufahren, und hielt ihn gedrückt, bis sie aufrecht saß. Dann schlang ich den Arm um sie, um sie zu stützen. Sie wog nichts mehr.
    »Bist du bereit, Komori?«
    »Ja.«
    Ich drückte eine Kapsel aus der Verpackung, legte sie ihr auf die Zunge und hielt ihr ein Glas Wasser an den Mund. Sie schluckte gehorsam und schwieg, obwohl es ihr Schmerzen bereitete. Ich gab ihr zwei von jeder Sorte, dann noch mal zwei und noch mal zwei. Vor jedem Schluck hielt sie kurz inne,

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