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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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um Kraft zum Schlucken zu sammeln. Manchmal hob sich ihr dürrer Arm, um gemeinsam mit mir das Wasserglas zu kippen.
    »Ganz schön viele«, flüsterte sie.
    »Na komm, bald hast du es geschafft. Jetzt nimm den Rest.«
    Fünf Minuten lang machten wir so weiter und mit jeder Tablette, die ich ihr in den Mund schob, fiel ihr das Schlucken schwerer.
    »Ich glaube, die Inkalilien-Knollen können bald in die großen Kübel gepflanzt werden«, sagte sie.
    Ich zählte die verbleibenden Pillen.
    »Butterfly?«
    »Ja, Komori?«
    »Sie brauchen immer viel Wasser.«
    Die Menge an Tabletten, die sie mittlerweile geschluckt hatte, hätte ein Pferd umbringen können, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Nach zwei weiteren begann das Wasser aus ihrem Mund zu rinnen. Sie ließ sich gegen mich sinken. Ich streichelte ihr über den Kopf und kühlte ihr die Stirn.
    »Schhh«, machte ich.
    Sie stand da, reglos, in einem bunt gemusterten Kimono, und blickte in die Ferne. Kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Vor ihr erstreckte sich ein grüner Hang und von rechts und links näherten sich lautlose Gestalten und verteilten sich auf drei Terrassen. Sie erkannte ihre leiblichen Eltern und Geschwister, ihre Adoptivmutter, ihre Tanten und Onkel. In der Mitte der am höchsten gelegenen Terrasse stand ihr Vater. Er verbeugte sich förmlich, respektvoll, doch seine Augen verströmten Liebe und Freude. »Willkommen zu Hause, Keiko.« Die Gestalten verwandelten sich in bunt blühende Bäume, und als sich eine sanfte Brise erhob, lösten sich die Blütenblätter von den Zweigen und erfüllten die Luft mit Millionen winziger Flöckchen, die langsam auf die Terrassen herabrieselten, auf ihren Kopf, in ihre ausgestreckten Hände.
    Ich öffnete ihren Mund und fand dort drei Tabletten. Um sicherzugehen, dass nicht noch mehr hängen geblieben waren, steckte ich ihr zwei Finger in den Hals. Dann saß ich einfach nur da, die Arme um ihren skelettartigen Körper geschlungen. Meine Handlungen waren rein mechanisch. Ich hatte lediglich die Handgriffe ausgeführt, die ihr einen würdevollen Tod bescheren sollten, einen nach dem anderen. Versprochen ist versprochen und ich hatte getan, was mir aufgetragen worden war. Gefühle hatten hier keinen Platz. Für Gefühle war später Zeit oder gar nicht. Egal.
    Ich senkte das Kopfteil des Betts in eine für sie bequeme Position, wischte ihr den Speichel vom Mund und strich ihre Kleider und die Bettdecke glatt. Dann packte ich sorgfältig die Tablettenschachteln zurück in meine Tasche. Es war nichts darunter, was man nicht rezeptfrei in der Apotheke bekam, obwohl ich meine Einkäufe vorsichtshalber auf drei verschiedene Geschäfte aufgeteilt hatte, denn die tödliche Mischung wäre wohl keinem aufmerksamen Fachmann verborgen geblieben. Dann rief ich Dr. Bastide an. »Können Sie bitte kommen?«, bat ich.
    Sobald er da war, ging ich. Draußen, wo mich niemand sah, legte ich mich mit dem Gesicht nach unten auf den kalten Asphalt. Hin und wieder erschütterten heftige Krämpfe meinen Brustkorb, aber mein Verstand blieb klar.
    Ich schaffte es nicht bis nach Hause. Die Dunkelheit in mir war zu stark, Sirup in meinen Adern, schwarze Flüssigkeit hinter meinen Lidern. Ich ging in eine Bar und trank vier Gläser Gin in zwanzig Minuten, dann ging ich in eine andere und trank noch zwei. Auf leeren Magen betäubten sie mich so weit, dass ich es zurück nach Manhattan und in die Geborgenheit von Komoris Wohnung schaffte, wo ich mich der Dunkelheit stellen konnte. Und sie kam. Sie kam.

15

    M R C. S TREETNY
    »Hallo, Beatrice?«
    »Ja.«
    »Hi, hier ist Ben, vielleicht erinnerst du dich an mich. Wir haben uns gestern vor der New York Public Library kennengelernt.«
    »Ah, ja, ich erinnere mich. Was liegt an?«
    »Ich weiß nicht so richtig, wie ich darauf antworten soll. In England heißt Was liegt an? so viel wie Was willst du? . Ich weiß, dass ihr in Amerika eher so was wie Wie geht’s dir? damit meint, aber Gut, danke als Antwort passt da ja nicht.«
    »Hm, ich verstehe das Problem. Du könntest zum Beispiel Nichts sagen, das käme in etwa Ganz famos, danke der Nachfrage gleich.«
    »Famos?«
    »Ja, so drückt ihr Briten euch doch aus.«
    »Ach ja?«
    »Jetzt versuch bloß nicht, mir weiszumachen, dass das bei euch auch keiner sagt.«
    »Ich fürchte, nein. Zumindest nicht besonders oft. Aber ich könnte mich auch irren.«
    »Mann, kannst du nicht einfach mal ein bisschen mitspielen?«
    »Okay, ich werde versuchen,

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