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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
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auf ihren Tod vor. Sie las mir ihr Testament vor – eine eher unkomplizierte Angelegenheit, denn sie hinterließ so ziemlich alles mir. Sie sagte, ich könnte die Sachen verkaufen, wegwerfen oder damit machen, was immer ich wollte, trug mir jedoch auf, verschiedenen Leuten ein paar besondere Dinge zukommen zu lassen und einige andere als Andenken zu behalten. Sie bewohnte ein großes Apartment im West Village. In diesem Apartment bin ich aufgewachsen und hier – in diesem außergewöhnlichsten aller Gärten – sitze ich auch jetzt und schreibe, umgeben von Komoris zahllosen Topfpflanzen, die jedes Fensterbrett, jede Oberfläche bevölkern, im Badezimmer wie in der Küche, und selbst die Schränke (in denen sie die Blumenzwiebeln vortrieb). Neben all den Pflanzen und Sträuchern steht hier sogar ein kleiner japanischer Baum (eine Blutweide, auch Katsurabaum genannt und eigentlich zu groß für die Wohnung), den Komori am Tag meiner Geburt eingetopft hat. Er war ein Geschenk meines Vaters gewesen. Sie hat mir beigebracht, für all diese Pflanzen zu sorgen – jede von ihnen ihren Bedürfnissen entsprechend zu wässern, zu stutzen und zu düngen. In mancherlei Hinsicht war es eine ganz normale Beziehung zwischen einer erwachsenen Frau und einem kleinen Mädchen. In anderer wiederum nicht.
    Ihr letzter Wille war nicht das Einzige, was in Bezug auf ihren Tod genauestens durchdacht war. Ein weiterer Punkt, der akribisch geplant werden wollte, war ihr Ableben selbst. Ihr Körper war von Krebs zerfressen. Sie hatte Monate und Jahre der Remission erlebt, gefolgt von immer neuen Tumoren in immer anderen Organen. Wenn sie durch ihre Chemotherapie zu geschwächt war, gab sie mich in die Obhut meiner überglücklichen Mutter, doch sobald mein Kindermädchen wieder auf zwei Beinen stehen konnte, holte es mich zu sich zurück. Aber der Tod sollte Komori nicht bezwingen. Wenn ihre Zeit irgendwann gekommen sein sollte, wollte sie in Würde sterben und (selbst wenn ihr eigenes Urteilsvermögen dazu nicht mehr ausreichte) ich sollte alles in die Wege leiten. Mein ganzes Leben war ich darauf vorbereitet worden, den Menschen, den ich auf der Welt am meisten liebte, zu töten.
    Trotz meiner Jugend war mir klar, dass das nicht normal war, und so hütete ich ein (tödliches) Geheimnis. Selbst heute noch komme ich mir wie eine Verräterin vor, weil ich dies alles zu Papier bringe, aber ich hege weiterhin die Hoffnung, dass es mir Frieden schenken wird.
    Als ich sechs Jahre alt war, machte sie zum ersten Mal Andeutungen, wenn auch angemessen vage, indem sie mir behutsam vermittelte, dass eine starke Persönlichkeit auch im Hinblick auf ihren Tod strikten Idealen folgen sollte. Erst als ich neun oder zehn war, erwähnte sie, dass das Ganze meine Mitarbeit erfordern würde; dass ich ihr, wenn ihre Zeit gekommen war, helfen sollte, in Würde zu sterben, und ich willigte ein. Komori hatte sich in den Kopf gesetzt, dem Schicksal oder Gott oder wer auch immer auf diesem Gebiet etwas zu sagen haben mochte, die Entscheidung über ihren Tod zu entreißen. Ihre Würde bestand darin, in jeder Situation die Kontrolle zu behalten, und war mir so wichtig wie das Leben selbst. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Darum dürfen diese Worte auf keinen Fall diese schützenden Buchdeckel verlassen, und doch bin ich mir sicher, dass dies nicht das Ende ihrer Reise ist, dass die Illusion der Beichte nicht ohne die Hoffnung auf eine Zuhörerschaft bestehen kann.
    In schwachen Momenten suchte Komori bei mir Zuspruch. »Versprich mir, dass du es tun wirst, Butterfly«, »Versprich mir, dass du da bist, wenn ich dich brauche«, »Versprich mir, dass du keine Angst haben wirst, dass du es dir nicht anders überlegst.« Und ich versprach es.
    Fünf Jahre vor ihrem Tod begannen wir, die Einzelheiten zu besprechen. Sie spürte, wie das Leben unaufhaltsam aus ihr heraussickerte, und wusste, dass es diesmal endgültig war. Es war an der Zeit, Vorbereitungen zu treffen. »Unser Plan muss fertig werden, solange ich noch zurechnungsfähig bin«, sagte sie immer wieder. »Lass uns noch mal alles durchgehen.« Komoris Tod sollte fehlerfrei und mit ruhiger Präzision herbeigeführt werden. Der Augenblick durfte nicht durch plötzlich aufkommende Nervosität oder Konzentrationsverlust getrübt werden, nicht zuletzt, weil ich nicht ins Gefängnis wandern wollte. Und so bereitete ich mich minutiös vor, wie eine Soldatin oder Terroristin, exerzierte in Gedanken jeden

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