Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
was auch nur im Entferntesten hätte interessant sein können, wurde an einen Lektor weitergegeben, die meisten jedoch wurden mit einer Standardabsage zurückgeschickt.
Eines Wintermorgens, als ich gerade die Post öffnete, stieß ich völlig unerwartet auf das Manuskript eines Romans, geschrieben und eingereicht von Tracy. Zu dieser Zeit war der Schmerz seiner Zurückweisung längst vergessen und bei der Erinnerung an ihn und seine dramatische Überreaktion stahl sich ein beschämtes Lächeln auf mein Gesicht. Das Buch nahm ich mit nach Hause und verschlang es noch am selben Abend.
Sein Schreibstil war enttäuschend gefällig. Die Handlung jedoch weckte mein Interesse. In deren Mittelpunkt stand ein Lehrer, der eine Beziehung mit einer minderjährigen Schülerin einging. Es war bei Weitem nicht Lolita , dennoch war es nicht schwer vorstellbar, woher er den Mut genommen hatte, eine solch skandalöse Fantasie zu Papier zu bringen. Mein Herz raste, als ich seine Version des Kaschmirunterwäschen-Zwischenfalls las und fürchtete, bloßgestellt zu werden, doch im Laufe der Geschichte erkannte ich nicht mich in seinen Worten wieder, sondern ein anderes Mädchen (ich werde sie Jane nennen); sie war eher unscheinbar und sogar noch jünger als ich, aber sie war eine reale Person und ich kannte sie. Wenn man der Geschichte Glauben schenkte, hatte Tracy über mehrere Jahre hinweg eine sexuelle Beziehung mit ihr gehabt.
Ich fragte mich, ob das alles wahr sein konnte. Wenn ich sichergehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir Informationen aus erster Hand zu besorgen. Ich fand Janes Mutter im Telefonbuch und sagte ihr, ich sei eine alte Freundin ihrer Tochter. Sie gab mir nur widerstrebend Auskunft, aber wollte wohl auch nicht unhöflich sein. Ich erfuhr, dass Jane an einem College nördlich von New York studierte, und ihre Mutter nannte mir den Namen einer respektablen Bildungseinrichtung für junge Frauen.
Sie war dünner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, und wirkte schüchtern und niedergedrückt. Als ich ihr von Tracys Buch erzählte, starrte sie zu Boden. Sie gab zu, dass sie mit vierzehn eine Affäre mit ihm begonnen und diese erst wenige Monate vor meinem Besuch bei ihr geendet hatte. Sie schilderte mir, wie Tracy sie umworben und verführt und schließlich genötigt hatte, ihre Beziehung geheim zu halten, doch sie gab sich selbst die Schuld an allem. Ich versprach ihr, dafür zu sorgen, dass Tracys Roman niemals veröffentlicht wurde. Sie flehte mich an, ihn nicht anzuzeigen, und ich beruhigte sie, dass ich das Problem auf eine sehr viel einfachere Art zu lösen beabsichtigte.
Der Tod war ein Thema, über das ich zu jener Zeit viel nachgrübelte. Ich hatte noch nie jemanden getötet, beschäftigte mich jedoch häufig mit dem Gedanken, testete die Anpassungsfähigkeit meiner moralischen Grundsätze und Grenzen, in der Hoffnung, genügend Spielraum für Komoris Tod zu finden. Es war unerlässlich, dass ich mich darauf einstellte. Das war Teil meiner Vorbereitungen, meiner Ausbildung, und so verfiel ich in einen Geisteszustand, in dem das Individuum seinen Wert verlor und meine Fantasie von Fiktion, Scham und Eifersucht genährt wurde.
Ich hatte einen Plan, den die Überzeugung, dass ich ihn niemals in die Tat umsetzen würde, leichter zu ertragen machte. Ich würde das Schicksal herausfordern und prüfen, wie nah ich meinem Ziel kommen würde.
Tracys Manuskript lag ein Brief bei, in dem eine Adresse vermerkt war. Es war nicht die, wo ich ihm fünf Jahre zuvor aufgelauert hatte. An diesem Freitag machte ich früher Feierabend, stellte mich vor seinem Haus auf die gegenüberliegende Straßenseite und wartete in der Kälte. Nach einer Weile bog er eiligen Schrittes um die Ecke, den Kragen hochgeschlagen, den Kopf gesenkt. Ich huschte über die Straße und rannte buchstäblich in ihn hinein, sodass seine Aktentasche in hohem Bogen auf dem Bürgersteig landete. Nun mag dies alles stark an meinen ersten Versuch, ein unerwartetes Treffen zu initiieren, erinnern, doch diesmal war mein Plan besser durchdacht, rücksichtsloser, weniger subtil, und meine Entschlossenheit unerschütterlich. Das Ergebnis war angenehm zufriedenstellend. Er entschuldigte sich reflexartig für seine Ungeschicktheit, erst dann erkannte er mich. Es war sein Vorschlag, irgendwo im Warmen zusammen etwas trinken zu gehen, damit wir uns nicht auf der Straße unterhalten mussten und uns dabei womöglich erkälteten.
Im
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