Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Constable
Vom Netzwerk:
dass wir, sobald ich mich in eine Erwachsene mit uneingeschränktem Wahlrecht verwandelte, zum Erstaunen all meiner Mitschülerinnen zu einem strahlenden Alphapärchen werden würden. In meiner Fantasie wussten die anderen längst Bescheid und wünschten mir nur das Beste, nachdem sie ihren Neid überwunden hatten.
    Während eines unserer Tête-à-têtes nach dem Unterricht (diesmal ging es um astrologische Bezüge in der Literatur) fand ich heraus, dass er in der darauffolgenden Woche Geburtstag hatte. Er würde sechsundzwanzig werden. Ich erzählte den anderen Mädchen, dass ich ein Geschenk besorgen wollte, und jede von ihnen steuerte einen Dollar bei. Den Rest fügte ich aus eigener Tasche hinzu. Ich kaufte ihm schwarze Kaschmirunterwäsche für 140 Dollar, liebevoll verpackt, und legte eine Karte mit dem Text Liebster Tracy, du bist großartig. Ich liebe dich. X dazu. Natürlich gab es noch eine zweite Karte, auf der alle anderen unterschreiben durften. Aber ich wusste, dass er meine Handschrift erkennen und jedes Mal, wenn er diese erlesenen Shorts anzog, an mich denken würde.
    Da ich diejenige gewesen war, die sich die Mühe gemacht hatte, das alles zu organisieren, war es nur fair, dass ich auch das Geschenk überreichte. Voll offensichtlichem Unbehagen öffnete er das Päckchen vor der ganzen Klasse. Ich weiß noch, wie entzückend ich es fand. Er bedankte sich bei uns allen und wandte sich dann schnell wieder Harper Lee zu. Von diesem Tag an vermied er es, sich mit mir allein zu treffen. Ich interpretierte diese Reaktion nicht nur als ein Zeugnis unserer Verschworenheit, sondern auch als Warnung an mich, dass niemand an der Schule von unserer Liebe erfahren durfte, wenn er nicht seine Stelle verlieren wollte, und wir unser aufkeimendes Glück daher abseits des Schulgeländes ausleben mussten, abgeschirmt vor den neugierigen Blicken der Welt. Also folgte ich ihm.
    Er kam mit dem Fahrrad zur Schule, was mir mein Vorhaben um einiges erschwerte, doch nachdem ich mich eine Zeit lang täglich nach Schulschluss jedes Mal ein paar Meter weiter auf seinem Heimweg postiert hatte, fand ich eine Adresse heraus, zu der er sich regelmäßig begab. Zwei Wochen später inszenierte ich ein zufälliges Treffen vor seiner Haustür. Hübsch zurechtgemacht, parfümiert und halb verrückt vor Aufregung lauerte ich ihm auf. Als er um die Ecke bog, sprang ich aus meinem Versteck und lief direkt in ihn hinein.
    »Ach, hallo, Tracy.« Natürlich tat ich so, als sei ich überrascht.
    »Scheiße, was machst du denn hier?« Hastig blickte er sich um, aus Angst, jemand könnte uns sehen.
    »Ich war nur gerade …« Ich hatte kaum mit meinem zurechtgelegten Text angefangen, als er auch schon explodierte.
    »’nen Scheiß warst du! Lass dich nie wieder hier blicken, verdammt! Das geht langsam echt zu weit!« Er hob die Hand, als wollte er mich schlagen, und ich zuckte schockiert zurück, die Augen voller Tränen.
    »Aber ich war doch nur gerade da drüben in der Buchhandlung …« Ich deutete in die entsprechende Richtung.
    »Hau ab, und zwar sofort, Butterfly! Wehe, du folgst mir noch mal, verdammt. Kapiert? Hau ab!«
    Ich stand da wie erstarrt.
    Er drückte auf eine Klingel. »Wir sehen uns morgen in der Schule«, sagte er, kurz bevor eine Frauenstimme fragte: »Ja?«
    »Ich bin’s«, erwiderte er. Ein Klickgeräusch ertönte und er verschwand im Haus.
    Hysterisch schluchzend flüchtete ich zurück in unsere Wohnung und schloss mich in meinem Zimmer ein, bis es Komori gelang, mich mit heißer Suppe und tröstenden Worten herauszulocken.
    Der Fleiß, den ich für Tracy an den Tag gelegt hatte, brachte mir gute Noten ein. Doch mein gebrochenes Herz quälte mich noch Monate später und die Schmach der öffentlichen Zurückweisung hatte mich kein bisschen davon kuriert. Noch lange danach war ich überzeugt, dass der einzige Weg, mich jemals von dieser grausamen Erniedrigung zu erholen, über seinen Tod führte.
    Fünf Jahre später war ich zu einer selbstbewussten jungen Frau herangereift und, vielleicht das einzige Mal in meinem Leben, glücklich. Ich arbeitete als Assistentin in einem kleinen, aber sehr renommierten Verlag für Lyrik und experimentelle Prosa. Es war mein erster Job seit meinem Schulabschluss und zu meinen Aufgaben gehörte unter anderem, die Einsendungen zu sortieren – mit anderen Worten, ich las den Anfang aller eingereichten Manuskripte und entschied, ob sie unseren hohen Ansprüchen genügten oder nicht. Alles,

Weitere Kostenlose Bücher